Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
plüschbezogenen Sitz sinken. Den ganzen Gang entlang saßen Männer, reglos, stumm, und lasen ihre Zeitung. Tom schlug seine auf und las einen langen Artikel über Verhandlungen in Korea. Ein Kommentator erörterte die Frage, ob Russland bald die Wasserstoffbombe habe und die Vereinigten Staaten damit beschieße. Tom faltete die Zeitung zusammen und starrte aus dem Fenster auf die Vorortbahnhöfe, die vorüberhuschten. Er überlegte, wie es wohl sein würde, für Ogden und Hopkins zu arbeiten, und auch, ob Betsys Pläne wohl gelingen konnten. Was würde geschehen, wenn Hopkins ihn feuerte und Betsys Immobilienträume zum Fiasko würden?
»Eigentlich ist es egal.« Diese Worte kamen ihm so deutlich in den Sinn, dass er fast glaubte, jemand hätte sie ihm ins Ohr gesagt.
»Wird schon schiefgehen.«
Trocken und emotionslos klang der Satz in seinem Kopf. Plötzlich wich die Anspannung von ihm, und er war locker. Es wird interessant sein zu sehen, was passiert, dachte er. Dann lachte er unvermittelt auf. Der Mann auf der anderen Seite des Ganges schaute ihn über seine Zeitung hinweg argwöhnisch an, worauf Tom den Blick zum Fenster wandte. Eine Schiene neben denen, auf denen er dahinraste, funkelte hell in der Sonne.
»Eigentlich ist es egal.« Im Krieg war das für ihn eine Art Schlüsselsatz gewesen, fast eine Zauberformel, eine Beschwörung. Vor einem Sprung war er immer angespannt gewesen. Er hatte sich immer Sorgen um Betsy gemacht – das war das erste Stadium, sobald er wusste, dass ihm wieder ein Sprung bevorstand. Er hatte ein klares Bild vor Augen, wie ein Junge von Western Union ihr ein Telegramm aushändigte, das mit den Worten »Das Kriegsministerium bedauert, Ihnen mitteilen zu müssen …« begann. Betsy würde das Telegramm öffnen, dann würde sie nach oben in das große Schlafzimmer in Großmutters Haus gehen und es Großmutter zeigen, und Großmutter würde sagen: »Du solltest stolz sein. Er ist für sein Land gestorben.« Und dann würde Betsy fluchen – er hatte immer sehen können, wie sie seine Großmutter anstarrte, weinend und fluchend, genau wie seine Mutter vor langer Zeit.
Am Vorabend eines Gefechtssprungs war diese Vision immer einer anderen gewichen. Ihm war der Gedanke gekommen, dass er nie wieder mit Betsy ins Bett gehen würde. Und er hatte an das kalte Bier gedacht, das er nun nie mehr trinken, und die blutigen Steaks, die er nie mehr essen würde. Dann wurde er allmählich verrückt.
Als er dann den Fallschirm beziehungsweise das Gurtzeug angelegt hatte, wie es bei den Fallschirmjägern hieß, hatte er sein Selbstmitleid meistens schon auf alle anderen in der Maschine ausgedehnt. Die armen Schweine, hatte er gedacht. Die Männer hatten alle auf ihren Klappsitzen zu beiden Seiten des Ganges gesessen, so ausdruckslos wie die Männer in den Pendlerzügen – ungefähr der einzige Unterschied war der, dass sie im Krieg keine Zeitungen gehabt hatten. Tom hatte oft da gesessen, ausdruckslos wie die anderen, und sich einen ganzen Trupp Western-Union-Jungen vorgestellt, wie sie das Bedauern des Kriegsministeriums überbrachten. Er hatte Männer vor einer Schlacht von Todesahnungen reden hören, und häufig, wenn einer gefallen war, hatte sich gezeigt, dass er einem von seiner Vorahnung erzählt hatte, aber Tom hatte ständig Vorahnungen gehabt.
Das Schlimmste an dem ganzen Albtraum waren immer die wenigen Minuten vor dem Sprung gewesen. Ein scharfes Bild von einem komplizierten Bruch des rechten Oberschenkels blitzte plötzlich in ihm auf. Während seines ersten Gefechtssprungs war der Mann neben ihm falsch aufgekommen und hatte sich einen komplizierten Bruch des rechten Oberschenkels zugezogen. Ein langer, schartiger Knochensplitter war durchs Hosenbein gedrungen, und der Mann hatte dagesessen und ihn angestarrt, bis jemand ihm eine Morphiumspritze gab. Tom hatte ihn nie wieder gesehen, weil die Deutschen gegen sie vorgerückt waren, und es war nötig gewesen, den Mann mit dem gebrochenen Oberschenkel zurückzulassen, randvoll mit Morphium, den Blick noch immer auf dem Knochensplitter. Das hatte Tom nie vergessen können, und danach fasste er sich vor fast jedem Sprung an den rechten Oberschenkel. Und dabei war ihm immer der dumme Satz in den Sinn gekommen, und dann wurde er etwas lockerer.
»Eigentlich ist es egal.«
Die Worte hatten eine wundersame Wirkung auf ihn. Er hatte sie oft vor sich hin gesagt, bis sie wie eine Art Offenbarung klangen. Als es dann so weit war, aufzustehen
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