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Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Titel: Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sloan Wilson
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und zur offenen Tür des Flugzeugs zu gehen, konnte er sich immer so lässig geben, als würde er nur mal eben ins Nebenzimmer gehen.
    »Geronimo!«, brüllten viele Männer, wenn sie absprangen, und versuchten dabei, ungeheuer wild zu klingen. Tom brüllte es ebenfalls, wenn es von ihm erwartet wurde, tatsächlich aber dachte er mit einer seltsam tröstlichen Distanziertheit: »Eigentlich ist es egal.« Und wenn Tom dann zur Tür hinaus in den Propellerwind trat, kam ihm immer der zweite Teil der Zauberformel in den Sinn: »Wird schon schiefgehen.« Und als sich der Fallschirm dann mit jenem gewaltigen Schlag ins Genick öffnete und er in jenem eigenartigen Moment vollkommener Ruhe und Stille hinabschwebte, der der Gefechtslandung unmittelbar vorangeht, kam immer der dritte Teil der Beschwörung: »Es wird interessant sein zu sehen, was passiert.«
    Das alles erschien Tom unglaublich, wenn er darauf zurückblickte, doch diese drei Sprüche hatten noch immer die Kraft, ihn zu beruhigen, wenn er da im Zug saß als einer von vielen Männern, die ihre Zeitung auf dem Schoß hielten, über einen neuen Job grübelte und das, was Betsy »den Beginn eines neuen Programms« nannte.
    Als er dann in New York war, war er entspannt. Was soll denn diese ganze Krise überhaupt?, dachte er. Nach diesem verdammten Krieg, warum habe ich jetzt Angst? Ich habe immer gedacht, der Frieden ist friedlich, dachte er und lachte. Als er durch die Grand Central Station schritt, schaute er nach oben und sah zum ersten Mal seit Jahren die Sterne, die dort an die blaue Decke gemalt waren. Sie schienen hell zu strahlen, und mit einem Anflug von Theatralik fragte er sich, ob es legitim war, sich bei einem gemalten Stern etwas zu wünschen. Er beschloss, dass es in Ordnung war, einen faulen Wunsch auszusprechen, und so wünschte er sich, er könnte eine Million Dollar verdienen und an Großmutters Haus einen neuen Flügel anbauen, mit einem Billardzimmer und einem Wintergarten, in dem man Orchideen züchten konnte.

12
    Auf dem Weg von der Grand Central Station durch die Forty-second Street zu seinem Büro in der Schanenhauser-Stiftung sah er dann auch den Mann mit der Lederjacke. Es war eine gewöhnliche braune Lederjacke mit Schaffellkragen – ungewöhnlich daran war lediglich, dass der Mann sie jetzt im Sommer trug. Der Mann war ein dunkelhäutiger, ziemlich schlampiger Mensch in Latzhose, T-Shirt und der Lederjacke, die er offen trug. Irgendwie zerrte die Lederjacke an Toms Gedächtnis – so eine hatte er irgendwo vor langer Zeit einmal gesehen. Es war lächerlich, immer wieder zu der Lederjacke zurückzukehren, wo er doch zu arbeiten hatte. Die Erinnerung an die Lederjacke war wie ein Rätsel, dessen Lösung, halb vergessen, von obskurer Bedeutung war, als hätte jemand ihm ein Geheimnis erzählt, das er nie weitersagen sollte, ein Geheimnis mit einem verborgenen Sinn, an das er sich jetzt aber nicht mehr erinnern konnte.
    Er versuchte, die Jacke aus seinen Gedanken zu verbannen, und lief die Straße weiter. Als er an der Fifth Avenue darauf wartete, sie überqueren zu können, hustete ein Mann neben ihm gequält. Dann fiel Tom die Lederjacke wieder ein – und alles daran kam so klar zurück, als hätte er sie nie vergessen gehabt.
    Es war 1943 gewesen, nur wenige Monate nachdem die Auflösung Deutschlands begonnen hatte. Allerdings hatte er nicht gewusst, dass Deutschland zerbrechen würde – es hatte ausgesehen, als ginge der Krieg ewig so weiter. Es war Dezember gewesen, Anfang Dezember, da hatte er den Mann in der Lederjacke getötet, einfach weil er die Jacke selbst brauchte.
    Nein, so war es überhaupt nicht gewesen. Sinnlos, es schlimmer zu machen, als es war. Der Mann mit der Lederjacke war bewaffnet gewesen, er war ein Feind gewesen, von mehreren Regierungen rechtmäßig zu einem solchen erklärt. Er war Deutscher gewesen, und die Deutschen waren anders als andere, so jedenfalls hatte es damals ausgesehen. Wie schwer es war, sich zu erinnern, wie die Deutschen damals erschienen waren! Sie waren unbezwingbar gewesen. Sie waren effizient gewesen. Sie waren Kriegsprofis gewesen, während alle anderen Amateure waren. Sie waren kalt und mitleidlos gewesen. Sie hatten die Juden ermordet. Sie hatten Millionen Unschuldiger erschossen, verbrannt und vergast. Sie hatten Schwächen verlacht, sie hatten sich an Grausamkeit erfreut, sie waren methodisch gewesen, sie hatten alles nach Plan gemacht. Sie hatten den Krieg angefangen, sie waren

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