Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
schnappen. Du wirst dich an den Gestank gewöhnen.«
Mahoney hatte gewürgt.
»Immerhin wird’s heute schön«, hatte Tom gesagt. »Besser, als wenn es regnen würde, und wir haben reichlich zu essen und zu trinken. Sieh mal, die Wolken da drüben – die sehen warm aus. Ein schöner Morgen.«
Er war verstummt, hatte sich plötzlich und wie aus dem Nichts an die Verszeilen erinnert, die auf der Bank in Großmutters so fernem Garten eingeritzt waren: »Die Lerche steigt auf, die Schneck’ ist am Dorn: Gott ist im Himmel – mit der Welt alles gut.« Er hatte aufgelacht. Er hatte sich in den Matsch am Boden des Lochs fallen lassen und einfach nur hysterisch gelacht.
»Wohl verrückt geworden!«, hatte Mahoney gesagt.
»Nein. Ich musste nur gerade an was denken – was ich jetzt nicht erklären kann«, hatte Tom geantwortet. Mahoney war zu müde gewesen, um weiter in ihn zu dringen. Sie hatten sich in den Matsch auf dem mit Wrackteilen gefüllten Boden des Kraters gelegt und waren sofort eingeschlafen. Erst in der Abenddämmerung waren sie wieder aufgewacht. Die Sonne hatte sie gewärmt, und beide waren erfrischt und ausgeruht. »Ich glaube, wir schaffen es«, hatte Tom gesagt. »Zum ersten Mal glaube ich wirklich, dass wir es schaffen.«
Und sie hatten es geschafft, und als sie nach sechs Tagen zu ihrer Kompanie gestoßen waren, hatten die jungen Rekruten, die diejenigen ersetzten, die nicht zurückgekommen waren, sie als Helden betrachtet. Darunter war ein junger Unteroffizier gewesen, der erst einige Monate bei der Armee gewesen war, ein schmaler Bursche italienischer Abstammung, der die deutsche Jacke hatte kaufen wollen, und Tom hatte sie ihm gegeben. Gardella hatte der Unteroffizier geheißen – »Caesar« Gardella hatten die Jungs ihn genannt. Er hatte eine tiefe Stimme gehabt. Und da erstarrte Tom plötzlich an seinem Schreibtisch in der Geschäftsstelle der Schanenhauser-Stiftung. Caesar Gardella! Das war der Fahrstuhlführer im United-Broadcasting-Gebäude! Es war Caesar Gardella, er war dick geworden und trug jetzt einen Schnurrbart! Und die Lederjacke sollte nicht das Einzige sein, woran er sich erinnerte. Er erinnerte sich an alles, was danach geschehen war – an den Absprung auf die Insel Karkow und davor an Rom und Maria. Tom merkte, dass er sich an den Oberschenkel fasste und schwitzte.
Maria.
Es ist nicht meine Schuld, dachte er. Es war nicht meine Schuld. Niemand hatte Schuld. Es ist vor langer Zeit passiert.
Maria.
Ich habe sie vergessen, dachte er. Ich habe lange nicht mehr an sie gedacht, ich habe eigentlich gar nicht mehr an sie gedacht, sie ist mir lange nicht mehr in den Sinn gekommen.
Es war wirklich nicht meine Schuld, dachte er. Niemand hatte Schuld. Man kann mir nichts vorwerfen.
Wie seltsam, wenn einem bewusst wird, dass offenbar nichts ganz vergessen ist, dass die Vergangenheit nie richtig vergangen ist, dass sie immer irgendwo steckt, bereit, die Gegenwart zu zerstören oder wenigstens absurd zu machen, und wenn schon nicht das, dann Tom absurd erscheinen zu lassen, denjenigen, der eine unendliche und ziemlich üble Maskerade inszeniert hat.
Ich bin ein guter Mann, dachte er, und ich habe nie etwas getan, dessen ich mich wirklich schäme. Seltsam, aber er schien sich selbst nachzuäffen. »Ich bin ein guter Mann«, schien er mit hoher, weiblicher, gezierter Stimme zu sagen, »und ich habe nie etwas getan, dessen ich mich wirklich schäme.« Als Antwort schien ein geisterhaftes, spöttisches Gelächter zu erschallen.
So etwas passiert eben, dachte er, und wenn ich das alles noch einmal machen müsste, würde es ganz genauso passieren.
Komisch, aber ich kann jetzt darüber nachdenken, dachte er – nach all den Jahren erkenne ich, was passiert ist. Endlich erkenne ich, was passiert ist, und es wäre absurd, sich dafür zu schämen.
Maria. Es war Dezember 1944. Der Ort: Rom. Und alles war anders. Als er jetzt, im Jahr 1953, an seinem Schreibtisch in der Schanenhauser-Stiftung saß, spürte Tom erneut die blinde, hilflose Wut, die damals, im Dezember 1944, alles ausgelöst hatte, als er, Mahoney und Caesar Gardella und die anderen, nachdem sie in einem Krieg gekämpft und ihn fast gewonnen hatten, einen Marschbefehl in den Pazifik erhalten hatten, ohne auch nur einen Tag Urlaub dazwischen in den Staaten. Die ganze Kompanie hatte diesen Befehl erhalten, und das nach zwei Gefechtssprüngen in Frankreich und zwei in Italien. Jemand war auf die Idee gekommen, dass man bei der
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