Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
»Ich hätte ihn geschlagen.«
Tom rührte sich nicht. Er fühlte sich schlapp und tief erschöpft. »Ich werde zu schnell wütend«, sagte er. »Vorhin hatte ich tatsächlich den Drang, Edward umzubringen. Oft möchte ich Ogden im Büro am liebsten umbringen. Seltsam, dass ich nur Fremde und Freunde töten darf.«
»Was?«
»Nichts. Ich bin schrecklich müde.«
»Das war ganz komisch, was du da gesagt hast, das mit dem Fremde und Freunde töten.«
»Ich habe den Krieg gemeint«, sagte er.
»Hast du denn da jemanden getötet?«
»Na klar.«
»Ich meine, hast du jemanden persönlich getötet? Du hast nie mit mir darüber gesprochen.«
»Jetzt bin ich zu müde. Ich möchte schlafen.«
Er wälzte sich unruhig herum und schloss die Augen. Betsy lag da in dem matten Licht, das vom Fenster her kam, und betrachtete seine großen Hände, die still gefaltet auf der Decke lagen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du jemanden getötet hast«, sagte sie.
Es kam keine Antwort. Betsy sah ihn noch einige Minuten an, dann versuchte auch sie zu schlafen. Wie seltsam, dachte sie, dass man so wenig über den eigenen Mann weiß. Ich wünschte, er würde mir vom Krieg erzählen, aber ich bin nicht so dumm, ihn danach zu fragen. Denn schließlich sollte eine gute Ehefrau ihrem Mann keine Fragen stellen, die er offensichtlich nicht beantworten will.
18
Tom und auch Betsy brauchten in jener Nacht lange, bis sie Schlaf fanden. Sie lagen im Dunkeln da, getrennt und stumm. Keiner der beiden kommentierte das Taxi, das am Haus vorfuhr, und die zugeschlagene Haustür. Aus irgendeinem Grund fanden sie es beide notwendig, sich schlafend zu stellen. Unten beklagte die alte Standuhr, die Tom durch die Kindheit begleitet hatte, weiterhin den Verlust einer jeden Stunde.
Schon wenige Minuten nachdem Tom endlich Schlaf gefunden hatte, wurde er von einem durchdringenden Schrei aus dem Nachbarzimmer geweckt. Er sprang aus dem Bett und rannte, gefolgt von Betsy, in das Zimmer, wo die beiden Mädchen schliefen, und knipste das Licht an. Janey saß kerzengerade im Bett und weinte. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Betsy lief zu ihr hin und nahm sie auf den Arm. »Was ist los, Schätzchen?«, fragte sie. »Hast du einen Albtraum gehabt?«
Janey sagte nichts. Sie umklammerte ihre Mutter mit beiden Armen, und allmählich wurden ihre Schreie zu Schluchzern. In dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers schlief Barbara friedlich, ohne etwas von der Störung mitzubekommen. Betsy ging mit Janey in ihr und Toms Zimmer und legte sie auf das große Bett. Tom schaltete das Licht aus, dann lagen er und Betsy im Dunkeln da, das Kind zwischen ihnen. Janey hörte auf zu schluchzen. Sie stieß einen langen, schaudernden Seufzer aus und schlief ein, noch immer fest an ihre Mutter geklammert.
Was sie wohl geträumt hat, dachte Tom. Was für Albträume hat ein Kind? Hat sie geträumt, wilde Tiere jagen sie, oder dass sie ertrinkt oder durch den Raum fällt? Was fürchtet ein Kind am meisten?
»Betsy, bist du noch wach?«, flüsterte er. Das regelmäßige, vermischte Atmen von Mutter und Kind war die einzige Antwort.
Als Tom am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich verkatert, als hätte er stark getrunken. Niemand sonst lag in dem großen Bett. Ein Blick auf das vertraute Zifferblatt seiner Armbanduhr sagte ihm, dass es fast halb zehn war. Er sprang aus dem Bett. »Betsy!«, rief er. »Ich habe meinen Zug verpasst!«
Sie war nicht im Zimmer. Im Schlafanzug rannte er die Treppe hinunter, durch Wohn- und Esszimmer in die große, altmodische Küche, wo Betsy Geschirr spülte. »Ich komme zu spät zur Arbeit!«, sagte er. »Ich muss noch einen Entwurf der Rede fertig kriegen!«
Sie schaute auf und lächelte. »Es ist Sonntag«, sagte sie.
»Oh«, sagte er kleinlaut, »hab ich vergessen.« Verwirrt stand er mitten in der großen Küche. Die Sonne fiel strahlend durchs Fenster. »Wo sind die Kinder?«, fragte er.
»Draußen. In dem alten Steingarten können sie wunderbar spielen.«
»Ich gehe wieder rauf und schlafe noch eine Runde«, sagte er.
»Untersteh dich! Ich bin seit sieben auf und packe aus, und jetzt gehen wir in die Kirche! Und davor machen wir eine Liste von allem, was wir noch tun müssen.«
»Dafür gibt’s doch gar nicht genug Papier«, sagte er. »Auf der ganzen Welt nicht.«
Er ging nach oben. Das Erste, was er sah, war seine alte Mandoline in einem abgestoßenen alten Lederkoffer. Sie lag auf seinem Schreibtisch, wo Betsy sie nach
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