Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
Boston mit einer großen Bar und einer Tanzkapelle und Massen junger Leute in Abendkleidern. Es war im Herbst 1939 gewesen, nur wenige Wochen vor den Weihnachtsferien, im besten Hotel Bostons, in dessen prachtvollem Ballsaal Betsy ihre Debütantinnenparty bekommen hatte.
»When the deep purple falls over sleepy garden walls …« Das war das Lied des Jahres gewesen. Er hatte es damals nicht besonders gemocht und hätte nicht erwartet, dass sein Hirn es als eines der Dinge erwählte, an die er sich erinnerte, womöglich sein ganzes restliches Leben lang.
Neunzehn neununddreißig! Mein Gott, wie sich die Welt seitdem verändert hatte, dachte er – das reicht, dass man sich jetzt tausend Jahre alt fühlt! Im Herbst 1939 war Hitler gerade in Polen einmarschiert. Die Experten hatten gesagt, die polnischen Lanzenreiter und General Schlamm würden ihn aufhalten, doch als Betsy ihre Debütantinnenparty gehabt hatte, war Polen schon gefallen, worauf die Experten gesagt hatten, nun werde Frankreich Hitler aufhalten, die französische Armee sei die beste der Welt. Die Experten hatten auch gesagt, die Vereinigten Staaten würden nie in den Krieg eintreten. Und da hatte Tom sich dann eine dauerhafte Verachtung aller Experten zugelegt und Pessimismus mit Weisheit gleichgesetzt. Fast seit er denken konnte, war er sicher gewesen, dass es Krieg geben werde und dass die Vereinigten Staaten in ihn eintreten würden. An der Covington Academy, damals, 1935, hatten die Jungs sogar eine Organisation mit Namen »Die Veteranen künftiger Kriege«, die für die Soldaten Zulagen vor dem Tod und nicht erst danach forderte. Die Pazifisten hatten in Zeitschriften Bilder abgedruckt, die einen verwundeten Soldaten zeigten, und die Unterzeile hatte gelautet: »Hallo, du Trottel!« Doch die Jungs hatten sich nicht verwirren lassen. Sie hatten schon lange gewusst, dass, egal was gesagt wurde, der Krieg kommen würde. Sie waren von dem Bild mit dem verwundeten Soldaten, den die Unterzeile Trottel nannte, gekränkt gewesen, und sie waren auch entsetzt gewesen über einen Bildband in der Bibliothek mit dem gruseligen und dann auch prophetischen Titel »Der Erste Weltkrieg«, aber sie hatten nicht viel darüber gesprochen. Sie hatten Football und Baseball gespielt, sie hatten einen Mandolinenclub organisiert und sich im Kino Ginger Rogers angesehen, und sie hatten ohne jede Verwirrung gewartet. Nur die Experten waren verwirrt gewesen.
Aber an dem Abend, an dem er zu Betsys Debütantinnenparty ging, hatte er sich wegen des Krieges keine Gedanken gemacht. Ungefähr drei Wochen davor hatte er die förmlich geprägte Einladung erhalten. »Mr und Mrs Mathew A. Donner laden Sie herzlich ein zu einem Tanz zu Ehren ihrer Tochter, Miss Elizabeth A. Donner«, hatte sie begonnen, und er hatte geantwortet: »Mr Thomas R. Rath nimmt die Einladung herzlich an …« Dutzende solcher Einladungen waren in jenen College-Jahren Monat für Monat eingetroffen, weil sein Name auf den richtigen Listen stand – dafür hatte die alte Florence Rath gesorgt.
Als er die Einladung bekam, hatte er Betsy noch nie gesehen und auch von den Donners nie gehört. Am Nachmittag vor der Party hatte er beschlossen, nicht hinzugehen, weil er noch so viel lernen musste, aber gegen acht Uhr hatte ihn sein Geschichtsbuch gelangweilt. Angewidert hatte er es in die Ecke geworfen und seinen Smoking angezogen und war in seinem Gebrauchtwagen nach Boston gefahren. »Da kann ich zumindest gratis Champagner trinken«, hatte er zu seinem Zimmergenossen gesagt.
Das Hotel war gerammelt voll gewesen, als er ankam – es war eine große Party, das hatte er mit einem Blick gesehen. Er hatte sich durch die Gruppen junger Leute in Abendkleidern gedrängt, die im Eingang zum Ballsaal standen, und sich einen Weg zu dem langen Tisch in einem angrenzenden Raum gebahnt, wo der Champagner ausgeschenkt wurde. Es war guter Import-Champagner gewesen. Tom hatte im Ballsaal unmittelbar an der Tür gestanden, an seinem Glas genippt und die Tanzenden mit einem milden Raubtierblick begutachtet. Damals hatte er sich für einen Frauenexperten gehalten. Er hatte geglaubt, er könne mit einem Blick erkennen, welche von ihnen leidenschaftlich, welche kalt sein würden, welche erwarten würden, dass viel Geld für sie ausgegeben wird, und welche nicht. Sein Blick war über Nina Henderson geglitten, die schon eine professionelle Schönheit geworden war und auf einem Zeitschriftentitel als Debütantin des Jahres abgebildet
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