Der Mann im Labyrinth
nach fünfzigjähriger Isolation von der Erde, durch glucostatische Maßnahmen einem Fettleibigkeitskult. Muller hatte der Welt einen Besuch abgestattet, zehn Jahre vor seiner unglücklichen Mission auf Beta Hydri IV. Der Zweck dieser hatte hauptsächlich darin bestanden, Mißverständnisse und Versäumnisse auf einem Planeten auszuräumen, der den Kontakt zur Mutterwelt verloren hatte. Muller erinnerte sich an eine warme Welt, von der nur ein schmaler Streifen mit gemäßigten Temperaturen bewohnbar war. Und er erinnerte sich weiter: die Fahrt auf einem Schwarzen Fluß, vorbei an undurchdringbar dichtem, grünem Dschungel; Tiere mit Rubinaugen, die sich an sumpfigen Uferbänken drängten; endlich die Ankunft in einer Siedlung, wo schwitzende Buddhagestalten, die mehrere hundert Kilogramm wogen, starr und in Meditation versunken vor strohbedeckten Hütten saßen. Noch nie zuvor hatte er so viel Fleisch pro Kubikmeter gesehen. Die Lokiten beschäftigten sich hauptsächlich mit ihren am Körper angebrachten Glucose-Rezeptoren, um eine weitere Körperverfettung zu veranlassen. Eine sinnlose Beschäftigung, die in keiner Weise von irgendeinem Umweltproblem oder sonstigen Eigenarten der Welt herrührte. Es war bei ihnen einfach zur Mode geworden, dick und schwer zu sein. Muller erinnerte sich an Arme, die wie Oberschenkel aussahen, an Oberschenkel wie Säulen, an Bäuche von kolossalem Umfang.
Ihre Höflichkeit und Gastfreundlichkeit hatten ihnen geboten, dem Spion von der Erde eine ihrer Frauen anzubieten. Für Muller war es eine Lektion darüber gewesen, wie relativ kulturelle Werte sein können. Im Dorf lebten zwei oder drei Frauen, die, obwohl sicher nicht mit einer Mannequinfigur versehen, nach örtlichen Maßstäben als knochig und verkümmert angesehen wurden. Für Muller hingegen entsprachen sie gerade so eben noch seinen Vorstellungen von weiblicher Attraktivität. Aber die Lokiten überließen ihm keine von diesen Frauen, ihrer Ansicht nach bedauernswerte, unterentwickelte Geschöpfe, die gerade hundert Kilogramm auf die Waage brachten; denn es hätte einen unverzeihlichen Bruch der Sitten bedeutet, einem Gast eine kärgliche Bettgefährtin zu geben. Statt dessen „verwöhnten“ sie ihn mit einem blonden Koloß, der Brüste wie Kanonenkugeln und Hinterbacken wie Kontinente aus wabbeligem Fleisch besaß.
Es war ein in jeder Hinsicht unvergeßliches Erlebnis gewesen.
Und es hatte viele solcher Welten gegeben. Er war ein rastloser Wanderer gewesen. Die Feinheiten der politischen und diplomatischen Manipulation hatte er Männern wie Charles Boardman überlassen. Muller besaß auch Fingerspitzengefühl, konnte staatsmännisch handeln und auftreten, aber er sah sich selbst mehr als Entdecker denn als Diplomat. Er hatte in Methanmeeren gefroren, war in unberührten Wüsten von titanischen Ausmaßen gebraten worden, war mit nomadischen Siedlern über eine purpurrote Ebene auf die Suche nach ihrem herumstreunenden arthropodischen Vieh gegangen. Er hatte durch Computerfehler auf atmosphärelosen Welten Schiffbruch erlitten. Er hatte die kupferhaltigen, neunzig Kilometer hohen Klippen auf Damballa gesehen. Er war im schwerkraftlosen Meer von Mordred geschwommen. Er hatte am Ufer eines buntschillernden Baches unter einem Himmel geschlafen, von dem drei Sonnen herabbrannten. Und er war über die Kristallbrücken von Prokyon XIV gegangen. Er hatte viel gesehen und bedauerte davon nur wenig.
Nun hatte er sich ins Zentrum seines Labyrinths verkrochen, beobachtete seine Monitore und wartete darauf, daß der Fremde ihn fand. Eine Waffe lag kühl in seiner Hand.
2
Der Nachmittag verging rasch. Rawlins begann darüber nachzudenken, ob er nicht doch besser auf Boardman gehört und vor seinem Aufbruch zu Muller noch eine Nacht im Camp verbracht hätte. Vielleicht ein dreistündiger Tiefschlaf, um die Spannungen aus seinem Gehirn zu waschen – sich rasch einmal an das Schlafgerät anzuschließen, war immer von Nutzen. Nun, er hatte geglaubt, es auch so zu schaffen. Jetzt hatte er keine andere Wahl mehr. Seine Sensoren zeigten an, daß Muller ganz in der Nähe war.
Moralische Fragen quälten ihn aufs neue, und auch die Frage, wie mutig er eigentlich war.
Er hatte noch nie etwas Vergleichbares tun müssen. Er hatte studiert, hatte in Boardmans Büro Routinearbeiten und -fälle erledigt und nur hin und wieder eine Angelegenheit regeln müssen, die etwas Grips und Fingerspitzengefühl verlangte. Und immer war er der
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