Der Mann im Park: Roman (German Edition)
schaute ins Dunkel. Die Natur stand immer noch in Blüte, die Bäume waren dicht belaubt.
Stierna bekam die Speisekarte, entschied sich für Heilbutt. Und zum Fisch ein Pils.
Er dachte über den vergangenen Tag nach. Vor allem über das Gespräch mit Lindberg. Der alte Kollege hatte behauptet, er bewundere Stierna, weil dieser sich getraut hatte, alles hinter sich zu lassen und noch einmal neu anzufangen. Doch das war keine Frage des Muts, eher im Gegenteil. Stierna ließ nicht alles hinter sich, um neu anzufangen, um einen neuen Abschnitt in seinem Leben zu beginnen. Er wollte nur fort, fühlte sich gezwungen aufzuhören.
Er bestellte noch ein Bier. Und zum Kaffee gönnte er sich einen Cognac.
Er ging die drei Treppen hinauf, Fahrstuhl gab es keinen.
Anscheinend war er ganz allein auf der Etage. Jedenfalls hörte er kein Geräusch aus den anderen Zimmern, und bis jetzt hatte er noch niemanden hinein- oder herausgehen sehen. Aber er war ja erst einen Tag da.
Auch über Stiernas Zimmer lag Stille, obwohl die Kirchenglocken jede Stunde läuteten. Doch es waren dumpfe Schläge, die ihn in eine Art Ruhe hüllten.
Stierna hatte noch nicht alles ausgepackt. Der größte Teil der Kleidung lag noch in der Kiste, ebenso die Tagebücher. Er hatte jemanden dafür bezahlt, dass ihm die große Holzkiste mit seinen Sachen ins Wirtshaus gebracht wurde. Er besaß inzwischen fünfundzwanzig Tagebücher. Vor gut neunzehn Jahren hatte er angefangen zu schreiben.
Er setzte sich an den Schreibtisch und überlegte eine Weile, ob er an diesem Abend etwas schreiben sollte, stellte aber bald fest, dass ihm die Inspiration fehlte.
Er setzte sich aufs Bett. Das gerahmte Foto auf seinem Nachttisch zeigte eine junge Frau im Sommerkleid, von der Seite. Sie stand auf einem Steg, auf einer Insel in den Schären. Sie war schön, auf eine aparte Art. Das blonde, glatte Haar war mit einem Seitenscheitel gekämmt. Die Stirn war hoch, die Augen ungewöhnlich groß. Er hatte ihr immer wieder erklärt, dass sie authentisch war, und das war das Beste, was er von einem Menschen sagen konnte. Karolina war wirklich authentisch gewesen. Wahrscheinlich war sie es immer noch.
Draußen erklang der dumpfe Schlag der Kirchenglocke. Es war bereits Mitternacht. Morgen wollte er mehr von Visby kennenlernen.
Doch erst gegen Morgen schlief er ein.
5
Es klopfte an die Tür. Stierna drehte sich um und schaute auf seine Taschenuhr. Er war überrascht, dass er gut acht Stunden geschlafen hatte.
Der Mann draußen war um die fünfzig. Er hatte dunkles Haar, einen grau melierten Bart und einen Bauchansatz, aber das Gesicht war knochig und schmal. Stierna erschien er widersprüchlich.
»Kommissar Stierna?«, fragte der Mann.
»Wer möchte das wissen?«
»Mein Name ist Grönwall. Börje Grönwall. Ich arbeite als freier Journalist. Ich hatte heute Morgen in der Rezeption Bescheid gesagt, dass ich Sie gern sprechen wollte. Hat man Ihnen das ausgerichtet?«
Stierna antwortete nicht auf die Frage. Es war elf Uhr, fast schon Zeit fürs Mittagessen.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte er stattdessen.
»Darf ich hereinkommen?«
Stierna wiederholte seine Frage.
»Was wollen Sie?«
Börje Grönwall versuchte ins Zimmer zu schauen. Stierna blieb in der Türöffnung stehen.
»Es geht um einen Fall, um Ermittlungen, die Sie geleitet haben. Einen Mordfall. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern …«
»Ich erinnere mich an so gut wie alle meine Ermittlungen«, unterbrach Stierna ihn. »Und an alle Mordfälle.«
»Dann also garantiert auch an diesen.«
»Von welchem Fall reden Sie?«
»Ingrid Bengtsson.«
Stierna schwieg, was dem Besucher anscheinend unangenehm war.
»Sie erinnern sich?«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Darf ich reinkommen, Herrr Kommissar?«
Stierna trat zur Seite und hielt die Tür auf.
Börje Grönwall trat mit vorsichtigen Schritten ein. Er stellte sich ans Fenster.
Stierna schloss die Tür und ging langsam zu ihm.
»Darf ich mich setzen?«, fragte Börje Grönwall.
»Ja, natürlich.« Stierna zeigte auf einen der weißen Sessel.
Eine Weile blieben sie schweigend sitzen. Stierna fragte sich, warum er den Journalisten überhaupt hereingelassen hatte; eigentlich wollte er doch nur seine Ruhe haben.
Börje Grönwall holte einen Notizblock und einige Stifte heraus.
»Also, ich schreibe einen Artikel über den Mord an Ingrid Bengtsson 1928.«
Stierna setzte sich, legte die Hände auf den Tisch.
»Warum?«, fragte er kurz.
»Warum? Was
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