Der Mann im Schatten - Thriller
Dein Herz krampft sich zusammen. Du hast Sammy fast ein Jahr nicht mehr gesehen - Gott, schon über ein Jahr. Wegen der Drogengeschichte hat man ihn zu zwölf Monaten Jugendknast verurteilt, doch der Richter hat die Strafe verlängert, nachdem Sammy bei einer Schlägerei einen anderen Jungen schwer verletzt hat.
Er wirkt so verändert. Sein Haar ist kurz - eine Auflage der Haftanstalt -, die ehemals langen roten Locken sind abgeschoren.
Und er hat eine Menge Gewicht verloren. Aber es ist nicht nur das Äußere.
Jetzt bemerkt er dich. Er mustert dich, deine Trainingsklamotten, deinen Sportler-Look. Dann blickt er desinteressiert beiseite.
Es liegt an der Situation, tröstest du dich selbst. Seine Mutter liegt im Sterben. Nimm’s ihm nicht übel.
Hey, begrüßt du ihn.
Hey. Er schaut dich dabei nicht an. Und seinem Tonfall nach zu urteilen ist er nicht an einer Unterhaltung interessiert. Zumindest nicht mit dir. Überhaupt scheint er nicht sonderlich interessiert an seiner Umgebung.
Verändert. Sammy ist immer ein Rebell gewesen, ein Quertreiber, klar, aber er war nie bösartig. Er hatte ein großes Herz, eine gute Seele. Genau das ist es, denkst du. Er hat in diesem Jugendknast mehr verloren als nur sein langes Haar und fünfzehn Pfund.
Deine Mutter und Pete verschwinden in Marys Zimmer. Du findest Sammy am Ende des Flurs im Aufenthaltsbereich. Er hockt alleine auf einer langen Couch. Du stehst eine Weile schweigend da, wartest auf eine Reaktion. Dann setzt du dich neben deinen alten Freund. Er hebt ein wenig den Kopf, ein kaum merkliches Signal des Einverständnisses, aber er sagt kein Wort.
Mehrfach setzt du an und brichst wieder ab. Nichts von dem, was du sagst, fühlt sich richtig an. So war es früher nie. Es war nie so anstrengend.
Aber es ist nicht nur deine Unbeholfenheit. Sammys ganze Haltung strahlt etwas Bedrohliches aus, eine Angriffslust, als könne er jeden Moment losschlagen.
Sammy, bringst du hervor, aber nichts folgt.
Als er sich zu dir umdreht, ist sein Ausdruck ernst, seine Augen mustern dich intensiv, als sähen sie dich zum ersten Mal. Verändert, registrierst du erneut. Alles an ihm ist anders.
Heute Abend wirst du in den Osten des Landes fliegen, zu einer von einem Dutzend Schulen, die dir ein Vorgespräch anbieten und dich mit einem Stipendium locken. In deinem Junior-Jahr bist du voll ausgelastet mit wöchentlichen Besuchen von Vertretern verschiedenster Unis, die dir die Vorzüge ihrer Einrichtungen in glühenden Farben darlegen wollen. So was schmeichelt einem, keine Frage. Du bist eine Berühmtheit. Sie schreiben jede Woche über dich in den Zeitungen. Die Lehrer tun zwar so, als würden sie dich nicht bevorzugen, aber du genießt unzweifelhaft Privilegien. Und die Mädchen? Es ist wie am Selbstbedienungsbuffet, du brauchst nur zuzugreifen.
In zwei Wochen, von heute an gerechnet, wirst du verkünden, dass du in der Nähe deines Wohnorts bleibst und ein Stipendium an einer staatlichen Uni annimmst. Du wirst deinen Traum von einer Football-Profi-Karriere weiterverfolgen, egal, was die Klischees über weiße Jungs in diesem Sport besagen. Du wirst dich um akzeptable Noten kümmern, mit Frauen ausgehen und dich ansonsten ausschließlich deinem Sport widmen.
In der folgenden Woche wird Mary Cutler sterben. Sammy wird bei ihrer Beerdigung anwesend sein, in einem schlecht sitzenden Anzug, und am nächsten Tag wieder in die Haftanstalt zurückkehren. Nach der Beerdigung wirst du lange Zeit nichts mehr von Sammy hören. Er wird zu einer Erinnerung werden, zu einem Teil deiner Kindheit, dem Lebensabschnitt, den du hinter dir gelassen hast.
23
Ich fuhr zurück in mein Büro und dachte dabei an Sammy und Pete, die beide zu bestimmten Zeiten einen besonderen Platz in meinem Herzen gehabt hatten. Mein Tatendrang und mein Ehrgeiz hatten mich ihnen entfremdet. Shauna hatte vermutlich Recht: Ich maßte mir zu viel Verantwortung für das Schicksal anderer an. Trotzdem, gewisse Tatsachen ließen sich nicht verleugnen. Natürlich brauchte ich mich nicht schuldig zu fühlen, wenn ich durch meine sportlichen Fähigkeiten eine gute Ausbildung ergatterte, aber ich brauchte deswegen nicht enge Bindungen aus Kindheitstagen zu vernachlässigen. Und sicher war nichts Falsches daran gewesen, mich auf Job und Familie zu konzentrieren, aber das hieß nicht, dass ich deswegen Petes Schwierigkeiten ignorieren durfte. Trotzdem, ich musste mich damit abfinden, an den Fehlern der Vergangenheit war nichts
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