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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Geländern keine größere Eleganz verleiht. Bilder, wie man sie aus vielen Filmen kennt. Doch belebt von einer Fremdartigkeit, die alle Vorstellungskraft übersteigt.
    Innerhalb weniger Schritte von der leidlichen Vertrautheit New Yorks in eine völlig fremde Welt, die an die Abenteuer- und Reiseromane aus fernen Ländern erinnert, die mein Vater, solange ich denken kann, verschlungen hat. Canal Street. Chinatown. Dominanz von Rot und Gold in einem chaotischen Farbenmeer. Üppigkeit. Vollgestellte Schaufenster mit Drachen, Lampions, bunten Stoffen, Fläschchen, Büchsen. Stände mit offen dargebotenem Reis, Gewürzen, exotischen Früchten. Tüten mit Muscheln, mannshohe
bunte Vasen, Schwerter, Gemüse. Von den Decken der Geschäftseingänge baumelnde Beutel mit Waren, Taschen, Kleidungsstücken. Unentwirrbares Sprachengemisch auf dem Bürgersteig. Hektische Betriebsamkeit. Straßenhändler, schmale Geschäfte, manche nur durch Wellblech voneinander getrennt, aber 25 Meter tief geheimnisvoll ins Innere der Häuser ragend. »Wong Rice and Noodle Shop«. Daneben eine asiatische Bank. Gegenüber ein kleines Geschäft, bis vor den Eingang Fische in allen Größen in Holzkisten auf Eis gebreitet; manche über einen Meter lang. Interessierte fassen sie an, heben die Kiemen. Unverständliche Verkaufsgespräche, Kopfschütteln, ein neues Angebot, Geld wechselt den Besitzer, und der Fisch wird samt Eis in eine Tüte gepackt. Imbißstände, an denen eine unüberschaubare Menschenmenge ansteht. Der etwas strenge Duft nach Gebratenem und chinesischen Gewürzen. Ich lasse mich vom Strom der Menschen treiben, biege um eine Ecke und werde umfangen von einem ganz anderen Flair.
    Fast europäisches Ambiente. Souvenirläden mit venezianischen Miniaturgondeln, großen, polierten Meeresmuscheln, Taschen, Sonnenbrillen. Kleine Lebensmittelgeschäfte, Schuster, Hutmacher, ein Wettbüro und ein »Gelati!« rufender Eisverkäufer mit seinem Wagen. Ein Restaurant dicht an das andere gedrängt. Little Italy.
    Überall Tische und Stühle auf der Straße. Atmosphäre wie auf einer italienischen Piazza, trotz des durch die enge Straße rollenden Verkehrs. Duft nach Pizza und frischem Fisch. Spüre meinen knurrenden Magen. Ein Kellner mit weißer Schürze hält vor dem Eingang seines Lokals Zigarettenpause, obwohl der Laden voll ist. Er grüßt mich freundlich, und mein Blick fällt auf ein Schild, bei dessen Anblick mir das Wasser im Munde zusammenläuft: »Spezialangebot! Nur heute: Ein Teller Spaghetti, Salat und ein Glas Wein, 75 Cent«, mit Kreide auf eine Tafel gemalt.
    Richtiges, warmes Essen, ein echtes Glas Wein, wie viele Wochen ist es her, seit ich solche Köstlichkeiten genoß? Und »nur« 75 Cent, also knapp einen Dollar … soll ich? Das Schild scheint mir das Paradies auf Erden zu versprechen.
    »Unsere Spaghetti sind wirklich fantastico«, erklärt der Kellner gestenreich »Come in Italia!« setzt er noch nach.
    Ich spüre schon fast den Geschmack auf meiner Zunge.
    Und ehe ich mich’s versehe, sitze ich in der Sonne an einem der
wenigen freien Tische. Nachgeahmte Jugendstilfassade. An der Wand bunte Kacheln, die von italienischen Landschaften erzählen.
    Ohne auf eine Aufforderung zu warten, schenkt der Kellner mir ein Glas mit stark nach Chlor riechendem Wasser ein. Ich lasse es lieber unberührt.
    Menschen strömen vorbei. Englisch und Italienisch vermischen sich zu einem weichen Klang. Eine unvorstellbar dicke Frau versucht, auf italienisch zeternd, ihre Kinderschar zusammenzuhalten. Einer der Jungen hat sich schmutzig gemacht, wird schimpfend mit harten, energischen Bewegungen mit einem von der Mutter angespuckten Taschentuch abgewischt. Der Kleine windet sich. Sein älterer Bruder lacht ihn aus. Manches scheint sich überall auf der Welt immer wieder aufs neue zu wiederholen, denke ich mit einem Lächeln an die Konflikte zurück, die mein älterer Bruder Joe und ich in unserer Kindheit hatten und an jene zwischen meinem Vater und Erwin, seinem älteren Bruder. Der kleine Junge geht wütend auf den größeren los. Der große Bruder grinst überlegen. Der Kleine rennt weg, der Große hinterher, und ich verliere sie aus dem Blickfeld.
    Mein großer Bruder Joe hat inzwischen geheiratet. Irgendwie kann ich ihn mir in der Rolle des Ehemanns sogar ganz gut vorstellen. Besser jedenfalls als mich. Gitta war bei dem Fest dabei. Was sie wohl gedacht hat? Hat sie gehofft, den Brautstrauß zu fangen? Es waren sicher keine einfachen

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