Der Mann mit dem Fagott
sind.
Ich verstehe das alles nicht, hätte gern mit Adrianne darüber gesprochen und gewußt, ob sie immer noch der Meinung sei, der Staat solle sich in die Wertevermittlung möglichst wenig einschalten …
Der Kellner bringt einen kleinen Teller mit Salat und einen kleinen Korb mit Weißbrot.
»They’re all crazy in Little Rock!« erklärt er nach einem flüchtigen Blick auf die Zeitung mit wegwerfender Geste, und dann, fast ohne Pause. »Aber haben Sie von Ava Gardner gehört? Die Scheidung von Frank Sinatra ist noch keine drei Monate her, da hat sie schon wieder den nächsten abserviert. So sind die Weiber. Wissen einfach nicht, was sie wollen: heute so, morgen so… impossibile ! Und die schlimmsten sind die aus Hollywood«, erklärt er mit Verachtung und schimpft im Weggehen weiter vor sich hin, doch der Rest seines Satzes geht im Lärm eines durch die Straße ratternden Lastwagens unter. Einer dieser imponierenden, chromblitzenden
»Mack«-Trucks mit Scheinwerfern, die jede Bühnenlicht-Anlage in den Schatten stellen. Mit aggressivem Hupen aus laut tönenden Rohren, die aussehen wie Trompeten und auf dem Dach des Führerhauses montiert sind, drängt er alles zur Seite, verschafft sich Vorfahrt. Die Tauben in der Nähe fliegen erschreckt auf.
Ich widme mich hingebungsvoll meinem Salat: Frisch, knackig, mit herrlichem Öl, Weinessig und Senf zubereitet. Bin dankbar für das Leben, das ich führe: In New York in einem kleinen Straßenlokal sitzend, zwar nur ein paar lumpige Dollar in der Tasche, aber jung, frei und zufrieden fühle ich einen Reichtum, den ich gegen nichts auf der Welt eintauschen würde.
Auf der Suche nach dem Kulturteil nehme ich die Zeitung wieder zur Hand, stoße auf einen Bericht über den wahnwitzigen Versuch eines Ärzte-Teams, einem Hund in einer vierstündigen Operation das Herz eines anderen Hundes einzupflanzen. 68 Minuten lang hatte es tatsächlich geschlagen, dann war der Hund gestorben. Trotzdem spricht man von einem Erfolg und hofft, diese Operation eines Tages sogar beim Menschen durchführen und damit Leben retten zu können. Was für ein Irrsinn, denke ich, das wird doch nie funktionieren. Schon seltsam, auf was für merkwürdige Ideen die Leute heutzutage kommen. Demnächst wird man vielleicht noch versuchen, zum Mond zu fliegen. Eine Rakete will man ja immerhin in ein paar Tagen tatsächlich ins All schicken. Eine tolle Vision, aber die viel näherliegenden Probleme auf der Erde, die Probleme zwischen Menschen, bleiben ungelöst. Man fliegt ins All, anstatt die Menschen in Little Rock einander näher zu bringen!
Ich blättere weiter, finde endlich die Kulturseiten: Überfliege einen Nachruf auf den großen finnischen Komponisten Jean Sibelius, der vor ein paar Tagen in Helsinki gestorben ist, finde die Annonce eines Beethoven-Klavierkonzertes mit Artur Rubinstein in der Carnegie Hall - bei dieser Ankündigung würde mein Vater ins Träumen geraten …
Und dann unter dem Titel »The Jungles of the City« ein Artikel, den ich verschlinge. Premierenbericht eines Stückes, das gestern abend am Broadway im »Wintergarden Theatre« uraufgeführt wurde: »West Side Story«. Komponiert von Leonard Bernstein, einem Dirigenten und Komponisten, der seit kurzem neben Dimitri Mitropoulos zweiter Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker
ist und eine Weltkarriere vor sich zu haben scheint. Ein Grenzgänger zwischen Klassik und Jazz, zwischen Tradition und Jugend, zwischen Schaffen und Bewahren.
Sein neuestes Stück ist in Musikerkreisen schon seit langem Gesprächsthema. Man hat gehört, es soll eine Art Jazz-Oper sein, eine ganz neue, aufregende Form. Eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte, die die Straße schrieb: Rivalitäten von Jugendlichen ohne Perspektive und eine Liebe, die letztendlich alle Grenzen und allen Haß überwindet, die Fragen stellt, aufwühlt und versöhnt. Es muß ein ganz neuer Weg sein, eine Geschichte in Musik zu erzählen: lebendig, pulsierend, emotional, ohne süßlich zu sein wie die Operetten und Schlager bei uns. Genau das, was Gitta bei unserem Gespräch in Rotterdam meinte: emotional zu sein, ohne kitschig zu werden, den Mut zu haben, in Musik zu fassen, was die Seele in unserer Zeit bewegt. Die Amerikaner machen’s mal wieder vor, und im Nu bin ich für Augenblicke völlig versöhnt mit diesem Land, das so rätselhaft ist und so enttäuschend, aber auch so neu und aufregend und Maßstäbe setzend. Jedenfalls in der Musik.
Die Kritik ist hymnisch:
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