Der Mann mit dem Fagott
Stunden für sie.
Ich denke zum ersten Mal seit langem wieder an den Kieselstein vom Strand, um den sie mich gebeten hat. Die wenigen Male, an denen ich am Meer stand, dachte ich an alles, nur nicht daran, einen Kieselstein aufzuheben und mitzunehmen. In Kalifornien habe ich zum ersten Mal in meinem Leben den Pazifischen Ozean gesehen. Alles beherrschende Faszination eines weltumspannenden Meeres. Irgendwie zu groß und zu mächtig, um an einen kleinen Kieselstein zu denken. Beschämende Gedankenlosigkeit in Liebesdingen. Vielleicht kann ich ja auch einfach einen Stein von der Straße nehmen, einen glitzernden, runden. Vielleicht merkt sie den Unterschied nicht. Aber nein … mit Symbolen lügt man nicht.
Der Kellner bringt einen wunderbar duftenden, dunkelroten italienischen Landwein. Ich nehme einen Schluck, spüre, wie meine Lebensgeister erwachen.
»Hi! Cheers!« prostet mir eine junge Frau vom Nebentisch sofort mit der Offenheit zu, die ich in den Wochen hier als typisch für dieses Land kennengelernt habe. »Where are you from?«
Als ich Austria sage und nach Känguruhs gefragt werde, wird es etwas kompliziert. Salzburg hilft weiter: Man hat gerade »The Sound of Music« gesehen, den brandneuen Film, der alle Österreich-Klischees auf einmal bedient. Bei uns zu Hause kennt ihn kaum jemand. Hier aber scheint seit diesem Film jedermann in eine lederhosenselige Alpenschwärmerei zu verfallen, wenn man Austria erwähnt. Als ich erzähle, daß ich Musik mache, ist es um die Fassung der jungen Leute endgültig geschehen. »Oh, like the Trapp-Family, how wonderful!« Ich spare mir die Mühe einer Erklärung.
Im Weggehen wünscht man mir noch alles Gute, läßt die Zeitung liegen, die »New York Times«.
Neben der aufgebrachten Diskussion um den Gewerkschaftsführer James R. Hoffa, dem offensichtlich kriminelle Machenschaften und Nähe zur Mafia unterstellt werden, dominieren immer noch die Vorgänge in Little Rock die Schlagzeilen.
Seitenlange Berichterstattung über die neun schwarzen Schüler, die seit Anfang des Monats zum ersten Mal gemeinsam mit weißen Schülern in einer High School in Little Rock unterrichtet werden sollten. Gouverneur Faubus hatte daraufhin - angeblich aus Angst vor Unruhen - die Schule von Nationalgarde und Polizei umstellen lassen, um die schwarzen Schüler am Betreten der Schule zu hindern und zog seine Truppen erst vor wenigen Tagen, auf richterliche Anordnung hin zurück. Daraufhin verließen jedoch die weißen Schüler die Schule, und es kam zu heftigen Ausschreitungen, die Auswirkungen auf das ganze Land hatten.
Louis Armstrong hatte vor einigen Tagen aus Protest eine von der amerikanischen Regierung organisierte Reise in die Sowjetunion abgesagt und ist damit in unserer Achtung ins Unermeßliche gestiegen.
Präsident Eisenhower hatte nun vorgestern endlich reagiert und tausend Mann der 101. Luftlandedivision unter dem im Zweiten Weltkrieg hochdekorierten und für seine Furchtlosigkeit berühmten Generalmajor Edwin A. Walker nach Little Rock geschickt, um weitere Ausschreitungen zu verhindern und für Rassenintegration zu sorgen.
In Kampfuniformen, mit aufgepflanzten Bajonetten hatten die Soldaten die Schule umstellt, jede Versammlung aufgelöst. In der Schule waren 24 Scharfschützen postiert worden. Gouverneur Faubus hatte sich daraufhin öffentlich über die »nackte Demonstration von Gewalt« gegenüber seinem Bundesstaat beschwert, während Generalmajor Edwin A. Walker versuchte, die Schüler für die offenbar noch nicht besonders bekannte Tatsache zu sensibilisieren, daß die USA ein Staat sei, der von Gesetzen und nicht von Pöbel und Faustrecht regiert werde.
Ein Busfahrer schrie inzwischen die das Schulgebäude umstellenden Soldaten an, sie bräuchten nun nur noch eine russische Fahne, und eine Frau grüßte mit hochgestrecktem rechtem Arm aus dem Fenster ihres Wagens und schmetterte den Truppen Generalmajor Walkers, die zuletzt 1945 in Berchtesgaden zur Auflösung des Berghofs stationiert waren, ein »Heil Hitler« entgegen.
Ich lege die Zeitung beiseite und versuche zu begreifen, was nicht zu begreifen ist: Integration, die militärisch durchgesetzt und bewacht werden muß. Sechs schwarze Mädchen und drei schwarze Jungen, die eine solche Bedrohung für die weiße Elite zu sein scheinen, daß sie nur von hochdekorierten Militäreinheiten geschützt zu ihrem Schulrecht kommen können. Teenager, die für bürgerkriegsartige Zustände sorgen, nur weil sie schwarz
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