Der Mann mit dem Fagott
Eltern im Chor. »Niemand darf davon erfahren.«
Was das bedeutet, ein verlorener Krieg, kann ich mir irgendwie überhaupt nicht vorstellen. Wir sind doch die Guten, oder etwa nicht? Kommen jetzt die Bösen zu uns? Das kann doch alles gar nicht sein.
»Heißt das, daß jetzt die Bösen die Guten besiegt haben?« frage ich irritiert.
Ganz ruhig sagt mein Vater: »Junge, wahrscheinlich verstehen wir alle das erst später, aber ich glaube fast, es ist umgekehrt.«
Ich spüre, daß für alle diese Fragen jetzt kein Platz ist. Vielleicht kann ich das ja nachher mit Joe besprechen. Er hat zu all dem überhaupt noch nichts gesagt. Seine Miene ist undurchdringlich. Ich würde zu gern wissen, was er denkt. Doch bei aller Verwirrung, das frische Brot schmeckt wirklich köstlich.
»Wieso müssen wir immer alle fliehen?«
Es ist stockdunkle Nacht, als wir unsere Koffer auf den Anhänger des Traktors laden. Karl Schindler wird sie zum Bahnhof bringen. Er fährt mit Hilde und Sophie voraus. Später werden Karl und Sophie den Wagen und den Traktor zurück zum Schloß bringen. Hilde wird mit uns nach Barendorf kommen, sonst niemand. Wir konnten nur soviel in die Koffer packen, wie wir tragen können. Nicht einmal mein Akkordeon durfte ich einpacken, sosehr ich auch darum gebettelt habe. Ich hätte gern auf meinen Sonntagsanzug und alles andere verzichtet, wenn ich nur meine Ziehharmonika hätte mitnehmen dürfen, aber meine Mutter sagte, das käme überhaupt nicht in Frage. Jeder von uns müsse auf Dinge verzichten, die ihm wichtig sind. Ich könne dafür meine Mundharmonika
mitnehmen, als ob das ein Ersatz wäre. Aber in Barendorf gibt es zum Glück wenigstens ein Klavier.
Eigentlich hatte ich gedacht, Sophie hätte den Schmuck und alles Wichtige in das frische Brot eingebacken, so wie Pascha es damals bei der Flucht meiner Großmutter und der Familie aus Rußland gemacht hatte, aber meine Mutter hat über diese Frage nur gelacht. Sie hätte gar nicht soviel Schmuck, und den wenigen, den sie besitze, lasse sie natürlich hier.
Mein Vater nimmt nicht einmal die Raritätenschachtel mit, nur die Uhr meines Großvaters. Aber mein Vater will in zwei Wochen oder so ja auch wieder zurückkommen. Er meint, er müsse hier die Stellung halten. Erstens weil er Bürgermeister sei und daher eine Verantwortung habe; er könne das Dorf ja nicht sich selbst überlassen, wenn die Russen kommen, müsse für eine geordnete Übergabe des Ortes sorgen. Und vielleicht könne er ja etwas tun, schließlich spreche er russisch. Zum anderen will er versuchen, das Schloß und das Gut, unsere Heimat, irgendwie für uns zu retten. Er allein könne sich wehren, aber die Familie müsse vorher in Sicherheit sein.
»Aber das verstehe ich nicht«, suche ich verzweifelt nach einer Antwort für all das, was mich in diesen Stunden bewegt. »Wieso müssen wir immer alle fliehen: Du damals mit deinen Eltern aus deiner Heimat Rußland und ich heute mit euch aus meiner Heimat Kärnten? Wir haben doch alle nichts Böses getan!«
Mein Vater schüttelt ratlos den Kopf. »Warum das so ist, das weiß ich leider auch nicht. Ich war genauso alt wie du, als ich meine Heimat Rußland verlassen und ich mit meinen Eltern flüchten mußte. Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Vielleicht kannst du, wenn du eines Tages erwachsen bist, ja für all das eine Antwort finden. Ich kann es heute nicht, und ich glaube, das kann zur Zeit niemand. Das ist eben der Wahnsinn eines Krieges … Vielleicht kommt ja irgendwann in Europa mal eine Zeit des dauerhaften Friedens, und vielleicht erleben deine Kinder es, nicht zu Flüchtlingen zu werden, aber heute können wir das alles nicht ändern.« Und nach einer kleinen Pause: »Aber jetzt müssen wir wirklich fahren!«
Ich nicke nachdenklich.
»Nur eine Minute! Ich hab noch was vergessen«, schwindle ich.
Und dann betrete ich noch einmal das Schloß, gehe durch die verlassenen Räume. Wer weiß, ob ich sie noch mal wiedersehe.
Der Flügel im Damenzimmer. Er hat mir immer angst gemacht und mich doch magisch angezogen. Ich hebe das Tuch ein wenig, setze mich, berühre die Tasten. Erst sind es leise Töne, die ich anschlage, dann spiele ich mit zwei Händen eine tiefe Oktave und schlage die Töne schnell hintereinander an. Die danebenliegenden Tasten nehme ich wie zufällig manchmal dazu. Ich drücke das Pedal voll durch und lasse den Klang anschwellen bis zur vollen Lautstärke. Alle Saiten beginnen zu schwingen. Und ich stelle
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