Der Mann mit dem Fagott
Schlag vernichten kann, aber das kann ich mir nicht vorstellen.
Wir werden wahrscheinlich bald irgendwie nach Berlin kommen, weil fast alle Züge nach Berlin geleitet werden.
»Es ist der wichtigste Verkehrsknotenpunkt, der noch aufrechterhalten wird«, sagt mein Vater, und er sieht dabei besorgt aus.
Meine Mutter sieht sehr nachdenklich aus, und dann sagt sie zu meinem Vater, es wäre doch ganz schön, wenn wir in Berlin in Opas Haus unterkommen könnten. Sie hat die Idee, Opa in Meran anzurufen und zu fragen, ob sein Haus in Berlin noch steht und ob wir dort reinkönnen, bis wir nach Barendorf weiterkommen.
Papa entschließt sich dann nach einigem Hin und Her wirklich, vom Bahnhof aus ein Gespräch nach Meran anzumelden, und es kommt sogar nach ganz kurzer Zeit zustande, was mir fast ein wenig komisch vorkommt in dem ganzen Chaos.
Ich glaube, mein Vater ist ein bißchen nervös, so plötzlich mit meinem Großvater zu sprechen, und ich hab in seinen Augen auch Tränen gesehen. Jedenfalls unterhalten sie sich ziemlich lang, und ich höre, wie mein Vater verspricht, mit uns allen nach Meran zu fahren, wenn »das hier vorbei ist«.
Dann drückt mein Vater mir den Hörer in die Hand und sagt,
Joe und ich dürften auch noch kurz mit unserem Großvater sprechen. Und ich höre Opa »Hallo, mein Junge« sagen, und die Stimme erkenne ich sofort wieder. Sie ist irgendwie ganz besonders, und ich habe sie in der ganzen Zeit, in der ich sie nicht gehört habe, nicht vergessen. Ich weiß gar nicht so recht, was ich ihm zuerst erzählen soll und würde ihm eigentlich gern sagen, daß er eine sehr schöne Stimme hat, aber das kommt mir irgendwie komisch vor und so sage ich, daß wir auf der Flucht sind, so wie er damals in Rußland, und er sagt ganz ernst, daß das eine schlimme Zeit ist. Und ich höre mit ganz laut klopfendem Herzen zu, als er mir sagt, Joe und ich müßten, wenn unser Vater zurück nach Ottmanach fährt, gut auf unsere Mutter aufpassen, so wie mein Vater und seine Brüder das damals in Schweden mit meiner Großmutter Anna gemacht haben, als mein Großvater in Rußland in der Verbannung war.
Opa muß oft Atem holen. Manchmal spricht er plötzlich sehr leise, so, als würde ihn das alles furchtbar anstrengen.
Ich muß ihm versprechen, »Verantwortung zu übernehmen«, und ich verspreche es und bin stolz darauf, daß er mir soviel zutraut. Ich würde gern so viel fragen und erzählen, aber das kann ich nicht, weil Joe neben mir immer ungeduldiger nach dem Hörer greift und mich ziemlich heftig in die Seite boxt, um endlich auch mit Großvater sprechen zu können.
Mit Joe spricht er viel länger als mit mir. Irgendwie hat unser Großvater mit Joe schon immer mehr Zeit verbracht, aber mit Joe konnte man ja schon immer auch mehr unternehmen als mit mir …
Meine Eltern stehen ein bißchen abseits, und ich höre, wie mein Vater zu meiner Mutter sagt, daß Opa auch nicht weiß, ob das Haus noch da ist, daß Großvater ihm aber gesagt hat, wo der Schlüssel ist. Und daß Opa auch gesagt hat, wenn wir können, sollen wir alles aus dem Haus mitnehmen, was uns brauchbar erscheint, vor allem aber den »Mann mit dem Fagott«. Der müsse dort noch irgendwo stehen, und er sei ihm lieb und teuer, und Großvater wolle, daß wir ihn an uns nehmen und daß er bei uns bleibt, weil mein Vater schon immer ganz besonders an der Figur gehangen habe, und mein Vater sagt das mit ganz rauher Stimme.
Als ich das höre, werde ich ganz aufgeregt: diese geheimnisvolle Bronzefigur, von der mein Vater uns so oft erzählt hat und die ich
noch nie mit eigenen Augen gesehen habe! Wenn wir Glück haben, kann ich also bald nicht nur unsere schöne Reichshauptstadt endlich kennenlernen, sondern auch den »Mann mit dem Fagott«! Irgendwie macht mir die ganze Fahrerei jetzt schon viel weniger aus.
Als Joe endlich aufgelegt hat, drängen wir uns wieder auf den Bahnsteig, und meine Eltern scheinen ein bißchen erleichtert zu sein, weil wir jetzt ein Ziel haben.
Irgendwann geht auch wirklich wieder ein Zug, und wir pressen uns mit vielen, vielen anderen Leuten hinein. Mami hat es auf unerklärliche Weise geschafft reinzukommen, und Papi hebt nun uns Kinder und am Schluß Hilde durch das Fenster hinein, drängt sich dann selbst irgendwie durch die Tür und kämpft sich zu uns durch. Manche Leute sitzen sogar auf den Puffern oder auf dem Dach, und das ist ziemlich gefährlich. Wir haben nur noch Platz auf dem Gang, auf unseren Koffern, und wir
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