Der Mann mit dem Fagott
Vaters, zu all dem gesagt hätte, was dort zur Zeit passiert. Wenn er auch nur geahnt hätte, welch ein in jeder Hinsicht unwürdiges System die Sowjets in unserer zweiten Heimat errichten würden, er hätte niemals eine rote Armbinde getragen. Ich habe oft darüber nachgedacht. Als Junge hat mich das fasziniert, genauso wie die politischen Diskussionen, auch wenn ich nichts verstanden habe. Welche Gefahr von all dem ausgeht, konnte ich natürlich überhaupt nicht ermessen.«
Mein Vater hält inne. In seinem Gesicht Spiegel von Erinnerungssplittern, die unausgesprochen bleiben. Blitzende Fröhlichkeit und besorgte Nachdenklichkeit fast im gleichen Augenblick. Gedankenverloren spielt er mit der Uhr. Ich versuche, ihn mir als Achtjährigen vorzustellen, der an die Zauberkraft glaubt, mit der er den Deckel in der Hand seines Vaters aufpusten kann, und es gelingt mir mühelos.
»Habt ihr denn gar nicht gemerkt, daß ihr in einer Scheinwelt gelebt habt, die früher oder später untergehen mußte ?« will mein Bruder Joe wissen. »Ich meine, es war doch wohl nicht zu übersehen, daß dieses Land vor dem Abgrund stand, daß dieser Zar völlig überfordert war, daß es dem Volk schlechtging? Habt ihr von all dem gar nichts mitbekommen?«
Mein Vater ist aufgestanden, hat Tschaikowskijs sechste Symphonie, die »Pathétique«, aufgelegt. Der Klang von Kontrabässen und Celli erfüllt den Raum und klingt fremd im ungewohnten Hall des leergeräumten Schlosses. Mein Vater schließt für einen Moment die Augen. »Ihr müßt einfach nur diesem Klang lauschen, dann wißt ihr eigentlich alles über die Zerrissenheit der Welt, in der wir damals lebten. Ja, Zerrissenheit, das trifft es wohl am besten, das war sicher das herausragende Merkmal der Zeit. Nie wieder habe ich solch eine Farbenpracht des Reichtums und so ein kaltes Grau der Armut ineinander verwoben gesehen. Man nahm
Gegensätze als etwas Natürliches hin. Es gab Reichtum und es gab Elend, das war normal. Man hat Wohltätigkeitsprojekte unterstützt und daran geglaubt, daß es mit der Ankurbelung der Wirtschaft auch den Menschen bessergehen würde. Aber Gleichmacherei …«
Mein Vater schüttelt den Kopf.
»Gleichmacherei hätte man als unnatürlich belächelt. Und was hat sie letztendlich auch gebracht?« Mein Vater läßt den Deckel der Uhr aufspringen, klappt ihn wieder zu. »Man hat einfach allen Glanz, alle Pracht, alles, was die Reichen dort geschaffen hatten, eliminiert. Übrig blieb das Grau - und das blutige Rot der neuen Ordnung, die keine ist. Und das Land meiner Kindheit ist einfach verschwunden …«
Mein Vater schiebt die Uhr mit einer entschlossenen Geste ein Stück von sich weg, als stünde sie ihm für die Zeit und die Magie seiner verlorenen Kindheit.
Rilke und Wera
»Es ist ein wenig kalt geworden, findet ihr nicht auch?« Mein Vater wartet kaum unser zustimmendes Nicken ab. Ruhig geht er zum Kamin, in dem die Holzscheite wie immer bereits gestapelt sind, zündet geduldig zum letzten Mal das Reisig an. Ein Abschiedsfeuer.
Langsam geht er zu seinem Schreibtisch. Ganz in Gedanken versunken beginnt er, die Erinnerungsstücke aus seiner Vergangenheit wieder in ihre Schachtel zu legen, die Erde, die Blume, die Bolschoj-Karten, und, nach einem fragenden Blick zu mir, auch die Uhr. Er ordnet die wohl letzten an die Adresse »Schloß Ottmanach« adressierten Briefe, Glückwünsche zum Umzug und Rechnungen. Inmitten der Kuverts ein Umschlag mit rot-blauer Umrandung. Mein Vater stutzt, runzelt die Stirn und reicht ihn mir:
»Entschuldige, das hätte ich über all dem Chaos beinahe vergessen. Dieser Brief ist gestern für dich gekommen.«
Erstaunt nehme ich den leichten Seidenpapier-Umschlag entgegen. Luftpost aus Amerika. Kein Absender. Die Handschrift ist mir völlig fremd. Vorsichtig öffne ich den Umschlag. » Lieber Udo« steht da, mit ungeübter Schrift.
Lange haben wir uns nicht mehr gesehen, aber ich habe gehört, daß Du in Berlin Plattenaufnahmen gemacht hast. Das freut mich sehr. Du weißt: Du mußt Deinen Weg machen. Es ist schön, zu sehen, daß jemand nach den Sternen greift und sie auch erreicht. Das macht Mut. Und Mut brauche ich wirklich. Immer noch. Oder mehr denn je.
Ich glaube, ich habe gefunden, was ich immer gesucht habe: einen guten Mann, der für mich sorgen will, ohne nach meinem bisherigen Leben zu fragen. Ein Amerikaner. Er war als Soldat in Salzburg. Er weiß nicht, was ich damals gemacht habe, und so soll es auch bleiben. Vor
Weitere Kostenlose Bücher