Der Mann mit der Ledertasche.
Schlückchen aus seiner Flasche. Dann versuchte ich, die Gruppe wieder einzuholen.
Der Italiano wartete auf mich an der Tür. Er sah mich kommen. Ging mir ein Stück entgegen.
»Chinaski?«
»Ja?«
»Sie haben sich verspätet.«
Ich sagte gar nichts. Wir gingen zusammen auf das Ge- bäude zu.
»Ich hätte Lust, Ihnen dafür eine schriftliche Verwarnung zu geben«, sagte er.
»Oh, bitte tun Sie das nicht! Bitte nicht!« sagte ich, wäh- rend er neben mir herging.
»Na schön«, sagte er, »dieses eine Mal will ich es Ihnen noch durchgehen lassen.«
»Vielen Dank«, sagte ich, und wir gingen zusammen hin- ein.
Wissen Sie was? Der Scheißkerl verbreitete einen üblen Körpergeruch.
20
Unsere dreißig Minuten galten jetzt ganz dem Lernen der Tabellen. Sie gaben jedem einen Stapel Karten, die wir auswendig lernen und in unsere Fächer stecken mußten. Um zu bestehen, mußte man hundert Karten in maximal acht Minuten verteilen, und davon mußten mindestens 95 richtig sein. Mau bekam drei Versuche, und wenn man es beim dritten Mal nicht schaffte, ließen sie einen gehen. Ge- nauer gesagt: man wurde gefeuert.
»Einige von Ihnen werden es nicht schaffen«, sagte der Italiano. »Dann sind Sie vielleicht für andere Aufgaben bestimmt. Vielleicht werden Sie eines Tages Präsident von General Motors.«
Dann waren wir Italiano los und bekamen unseren netten kleinen Ausbilder, der uns ermutigte.
»Das schafft ihr schon, Kameraden, es ist gar nicht so schwer, wie es aussieht.«
Jede Gruppe bekam ihren eigenen Ausbilder, der eben- falls bewertet wurde, je nach dem Prozentsatz der Leute, die die Prüfungen bestanden. Wir hatten den Typ mit dem niedersten Prozentsatz. Er machte sich Sorgen.
»Es ist überhaupt nichts dabei, Kameraden, ihr braucht euch nur ein bißchen zu konzentrieren.«
Einige hatten dünne Stapel, ich hatte den fettesten von allen.
Ich stand einfach da in meinen vornehmen neuen Klei- dern. Stand da mit den Händen in den Taschen.
»Chinaski, wo fehlt's denn?« fragte der Ausbilder. »Ich weiß, daß Sie es spielend schaffen.«
»Sicher. Klar. Ich denke nur gerade.«
»Was denken Sie denn?«
»Nichts.«
Und dann wandte ich mich ab.
Eine Woche später stand ich immer noch mit den Händen in den Taschen da, und eine Aushilfe kam zu mir her.
»Sir, ich glaube, ich beherrsche jetzt meine Tabelle.«
»Sind Sie auch sicher?« fragte ich ihn.
»Beim Üben habe ich 97, 98, 99 und ein paarmal 100 ge- schafft.«
»Sie müssen verstehen, daß wir sehr viel Geld für Ihre Ausbildung ausgeben. Wir legen großen Wert darauf, daß Sie die Tabellen aus dem Effeff beherrschen!«
»Sir, ich bin bereit!«
»Na gut«, ich schüttelte ihm die Hand, »dann nichts wie ran, mein Junge, und viel Glück.«
»Vielen Dank, Sir!«
Er lief hinüber zum Prüfungsraum, der ringsum einge- glast war wie ein Aquarium und in dem sie sehen wollten, ob man sich über Wasser halten konnte. Die armen Fische. Wie war ich doch seit den Tagen als Kleinstadtgauner her- untergekommen. Ich ging in den Schulungsraum, streifte das Gummiband von den Karten und sah sie mir zum ersten Mal an.
»So ein Scheißdreck!« sagte ich.
Ein paar der Typen lachten. Dann sagte der Ausbilder: »Die dreißig Minuten sind vorbei. Sie gehen jetzt zurück an die Arbeit.«
Und das hieß: zurück zu den zwölf Stunden.
Sie konnten nie genug Leute halten, die die Post ver- teilten. Deshalb mußten die, die zurückblieben, alles tun. Laut Arbeitsplan mußten wir zwei Wochen durcharbeiten, doch dann sollten wir vier Tage freibekommen. Nur so hiel- ten wir es aus. Wir dachten an die viertägige Verschnauf- pause. In der letzten Nacht vor den vier freien Tagen kam es über die Lautsprecheranlage:
»ACHTUNG! ACHTUNG! ALLE AUSHILFEN IN GRUPPE 409!...«
Ich war in Gruppe 409.
»...IHRE VIER ARBEITSFREIEN TAGE SIND GE- STRICHEN WORDEN. SIE HABEN SICH WÄHREND DIESER VIER TAGE ZUR ARBEIT EINZUFINDEN!«
21
Joyce fand eine Stelle bei der Bezirksverwaltung, und zwar ausgerechnet bei der Polizei. Ich war mit einem Bullen verheiratet! Aber es war wenigstens am Tage, und so hatte ich vor diesen Fummelhänden ein wenig Ruhe, doch dafür kaufte Joyce zwei Wellensittiche, und die verdammten Vie- cher redeten nicht, sie machten einfach den ganzen Tag lang diese Geräusche.
Joyce und ich sahen uns beim Frühstück und beim Abend- essen — es eilte dabei immer sehr — recht angenehm. Obwohl es ihr auch jetzt noch gelegentlich gelang, mich zu vergewal- tigen, war die Lage entschieden besser als
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