Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
ist nicht, was man vor sich hat, sieht, hört, will, angreift, bewältigt. Es liegt als Horizont, als Halbkreis voraus; aber die Enden dieses Halbkreises verbindet eine Sehne, und die Ebene dieser Sehne geht mitten durch die Welt hindurch. Vorn sehen das Gesicht und die Hände aus ihr heraus, laufen die Empfindungen und Bestrebungen vor ihr her, und niemand bezweifelt: was man da tut, ist immer vernünftig oder wenigstens leidenschaftlich; das heißt, die Verhältnisse außen verlangen in einer Weise unsere Handlungen, die jedermann begreiflich ist, oder wenn wir, von Leidenschaft befangen, Unbegreifliches tun, so hat schließlich auch das seine Weise und Art. Aber so vollständig dabei alles verständlich und in sich geschlossen erscheint, wird es doch von einem dunklen Gefühl begleitet, daß es bloß etwas Halbes sei. Es fehlt etwas am Gleichgewicht, und der Mensch dringt vor, um nicht zu wanken, wie es ein Seilläufer tut. Und da er durchs Leben dringt und Gelebtes hinter sich läßt, bilden das noch zu Lebende und das Gelebte eine Wand, und sein Weg gleicht schließlich dem eines Wurms im Holz, der sich beliebig winden, ja auch zurückwenden kann, aber immer den leeren Raum hinter sich läßt. Und an diesem entsetzlichen Gefühl eines blinden, abgeschnittenen Raums hinter allem Ausgefüllten, an dieser Hälfte, die immer noch fehlt, wenn auch alles schon ein Ganzes ist, bemerkt man schließlich das, was man die Seele nennt.
Man denkt, ahnt, fühlt sie natürlich allezeit hinzu; in den verschiedensten Arten von Ersätzen und je nach Temperament. In der Jugend als ein deutliches Gefühl der Unsicherheit bei allem, was man tut, ob es wohl auch das rechte sei. Im Alter als Staunen darüber, wie wenig man von dem getan hat, was man eigentlich vorhatte. Dazwischen als Trost, daß man ein verfluchter, tüchtiger, braver Kerl sei, wenn auch nicht alles im einzelnen zu rechtfertigen ist, was man tut; oder daß ja auch die Welt nicht so sei, wie sie sollte, so daß am Ende alles, was man verfehlt hat, noch einen gerechten Ausgleich darstellt; und schließlich denken manche Leute sogar über alles hinaus an einen Gott, der das ihnen fehlende Stück in der Tasche trägt. Eine besondere Stellung nimmt dabei nur die Liebe ein; in diesem Ausnahmefall wächst nämlich die zweite Hälfte zu. Der geliebte Mensch scheint dort zu stehen, wo sonst stets etwas fehlt. Die Seelen vereinigen sich sozusagen dos à dos und machen sich dabei überflüssig. Weshalb die meisten Menschen nach dem Vorübergehn der einen großen Jugendliebe das Fehlen der Seele nicht mehr empfinden, und diese sogenannte Torheit eine dankbare soziale Aufgabe erfüllt.
Weder Diotima noch Arnheim hatten geliebt. Von Diotima weiß man es, aber auch der große Finanzmann besaß eine in erweitertem Sinn keusche Seele. Er hatte immer Angst gehabt, daß die Gefühle, die er in Frauen erregte, nicht ihm, sondern seinem Geld gelten könnten, und lebte deshalb nur mit Frauen, denen auch er nicht Gefühle, sondern Geld gab. Er hatte niemals einen Freund besessen, weil er sich fürchtete, mißbraucht zu werden, sondern nur Geschäftsfreunde, auch wenn der geschäftliche Austausch ein geistiger war. So war er durchtrieben von Lebenserfahrung, doch unberührt und in der Gefahr des Alleinbleibens, als ihm Diotima begegnete, die das Schicksal für ihn bestimmt hatte. Die geheimnisvollen Kräfte in ihnen stießen aufeinander. Es läßt sich das nur mit dem Streichen der Passatwinde vergleichen, dem Golfstrom, den vulkanischen Zitterwellen der Erdrinde; Kräfte, ungeheuer denen des Menschen überlegen, den Sternen verwandt, setzten sich in Bewegung, vom einen zum anderen, über die Grenzen der Stunde und des Tags hinaus; unermeßliche Ströme. Es ist in solchen Augenblicken ganz gleichgültig, was gesprochen wird. Aus der senkrechten Bügelfalte empor, schien Arnheims Leib in der Gotteseinsamkeit der Bergriesen dazustehn; durch die Welle des Tals mit ihm vereint, stand auf der anderen Seite einsamkeitsüberglänzt Diotima, in ihrem Kleid der damaligen Mode, das an den Oberarmen kleine Puffen bildete, über dem Magen den Busen in eine kunstvoll gefaltete Weite auflöste und unter der Kniekehle sich wieder an die Wade legte. Die Glasschnüre der Türbehänge spiegelten wie Weiher, die Lanzen und Pfeile an den Wänden zitterten ihre gefiederte und tödliche Leidenschaft aus, und die gelben Calman-Lévy-Bände auf den Tischen schwiegen wie Zitronenhaine. Wir übergehen mit
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