Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
einer Katatonikerversammlung in einem Irrenhaus. Diese Sammlung wurde sehr geschätzt und führte viele Kunstgelehrte zu Arnheim, mit denen er sich gebildet unterhielt, aber er setzte sich auch oft allein und einsam in seinen Saal, und dann war ihm ganz anders zumute; ein schreckartiges Staunen war in ihm wie vor einer halb irrsinnigen Welt. Er fühlte, wie in der Moral ursprünglich ein unsägliches Feuer geglüht hat, bei dessen Anblick selbst ein Geist wie er nicht viel mehr tun konnte, als in die ausgebrannten Kohlen starren. Diese dunkle Erscheinung von dem, was alle Religionen und Mythen durch die Erzählung ausdrücken, daß die Gesetze uranfänglich dem Menschen von den Göttern geschenkt worden seien, die Ahnung also eines Frühzustands der Seele, der nicht ganz geheuerlich und doch den Göttern liebenswert gewesen sein mußte, bildete dann einen seltsamen Rand von Unruhe um sein sonst so selbstgefällig ausgebreitetes Denken. Und Arnheim besaß einen Gärtnergehilfen, einen tiefschlichten Menschen, wie er das nannte, mit dem er sich oft über das Leben der Blumen unterhielt, weil man von so einem Mann mehr lernen kann als von Gelehrten. Bis Arnheim eines Tags entdeckte, daß dieser Gehilfe ihn bestahl. Man kann sagen, er trug geradezu verzweifelt alles weg, was er erreichen konnte, und sparte den Erlös auf, um sich selbständig zu machen, das war der einzige Gedanke, der ihn Tag und Nacht besaß; aber einmal verschwand auch eine kleine Skulptur, und die zu Hilfe genommene Polizei deckte den Zusammenhang auf. An dem Abend, wo Arnheim von dieser Entdeckung benachrichtigt wurde, ließ er den Mann rufen und machte ihm die ganze Nacht lang Vorwürfe wegen der Irrwege seines leidenschaftlichen Erwerbtriebs. Man erzählte, daß er selbst dabei sehr aufgeregt gewesen sei und zeitweise nahe daran, in einem dunklen Nebenzimmer zu weinen. Denn er beneidete diesen Mann, aus Ursachen, die er sich nicht erklären konnte, und am nächsten Morgen ließ er ihn von der Polizei abführen.
Diese Geschichte wurde von nahen Freunden Arnheims bestätigt, und ähnlich war ihm auch diesmal zumute gewesen, als er mit Diotima allein in einem Zimmer stand und etwas wie das lautlose Lodern der Welt um die vier Wände fühlte.
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Was alle getrennt sind, ist Arnheim in einer Person
IN DEN FOLGENDEN WOCHEN nahm der Salon Diotimas einen gewaltigen neuen Aufschwung. Man kam hin, um das Neueste von der Parallelaktion zu erfahren und um den neuen Mann zu sehen, von dem es hieß, daß sich Diotima ihn verschrieben habe, einen deutschen Nabob, einen reichen Juden, einen Sonderling, der Gedichte schrieb, den Kohlenpreis diktierte und der persönliche Freund des deutschen Kaisers war. Nicht nur Damen und Herren aus den Kreisen des Grafen Leinsdorf erschienen und aus der Diplomatie, sondern auch das bürgerliche Wirtschafts- und Geistesleben zeigte sich in erhöhtem Maße angezogen. So stießen Spezialisten der Ewesprache und Komponisten aufeinander, die voneinander noch nie einen Ton gehört hatten, Webstühle und Beichtstühle, Menschen, die bei dem Worte Kurs an den Rennkurs, Börsenkurs oder Seminarkurs dachten.
Nun ereignete sich aber etwas noch nie Dagewesenes: es gab einen Mann, der mit jedem in seiner Sprache reden konnte, und das war Arnheim.
Er hielt sich von den offiziellen Sitzungen, nach dem peinlichen Eindruck, den er am Beginn der ersten empfangen hatte, weiterhin fern, aber er nahm auch nicht immer an den Gesellschaften teil, denn er war viel von der Stadt abwesend. Von der Sekretärstelle war selbstverständlich nicht mehr die Rede; er selbst hatte Diotima auseinandergesetzt, daß sich dieser Einfall nicht schicken würde, auch für ihn nicht, und Diotima konnte zwar Ulrich nicht ansehn, ohne ihn als einen Usurpator zu empfinden, aber sie fügte sich dem Urteil Arnheims. Er kam und ging; während drei oder fünf Tage wie nichts verflossen, kehrte er aus Paris, Rom, Berlin zurück; was sich bei Diotima ereignete, war nur ein kleiner Ausschnitt aus seinem Leben. Aber er bevorzugte ihn und war mit ganzer Person in ihm anwesend.
Daß er mit Großindustriellen über die Industrie und mit Bankleuten über die Wirtschaft zu sprechen vermochte, war verständlich; aber er war imstande, ebenso unumschränkt über Molekularphysik, Mystik oder Taubenschießen zu plaudern. Er war ein außerordentlicher Redner; wenn er einmal angefangen hatte, hörte er so wenig auf, wie man ein Buch abschließen kann, ehe darin alles gesagt ist, was
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