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Der Mann ohne Vergangenheit

Der Mann ohne Vergangenheit

Titel: Der Mann ohne Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles L Harness
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einen bestimmten Akkord an. Er wußte, daß ihn die zwei Männer hörten, aber sie schienen sich keine Sorgen zu machen.
    „Nun, Mica, lies vor, was du da hast“, meinte Haven zu dem Ethnologen.
    Corrips, ein großer, kräftiger Mann mit freundlichen blauen Augen und einer Rhetorik, die so mitreißend war, daß man ihm das große Auditorium der Universität als Vorlesungssaal zugewiesen hatte, griff nach dem Vorwort und fing zu lesen an.
    „,Wir können uns, wenn es uns gefällt, vorstellen, daß eines Frühnachmittags im Jahre 40000 vor Christus die Vorhut der Neandertaler das Rhônetal erreichte, ungefähr an der Stelle, wo jetzt Lyon liegt. Diese Frauen und Männer, die von den langsam wachsenden Gletschern aus ihren Jagdgründen in Böhmen nach Südwesten verdrängt wurden, hatten seit Überschreitung des zugefrorenen Rheines im Januar vorher nahezu ein Drittel an Zahl eingebüßt. In der Gruppe gab es inzwischen weder Kinder noch sehr alte Menschen.
    Diese Menschen aus Mitteleuropa waren alles andere als hübsch. Sie waren stämmig, fest gebaut, beinahe halslos, mit überhängenden Augenbrauenknochen und platten Nasen. Sie gingen mit gebeugten Knien auf der Außenseite der Füße, ähnlich den höheren Anthropoiden.
    Dennoch waren sie bei weitem zivilisierter als der tierische Eoanthropus (Piltdown-Mensch? Heidelbergmensch?), in dessen Revier sie einmarschierten. Das einzige Werkzeug des Eoanthropus war ein so behauener und geformter Feuerstein, daß er in die Hand paßte. Er benutzte ihn zum Ausreißen von Wurzeln und gelegentlich zum Oberfall aus dem Hinterhalt auf ein Rentier.
    Er verbrachte sein kurzes, dumpfes Leben im Freien. Der Neandertaler andererseits verfertigte Speerspitzen, Messer und Sägen. Dazu verwendete er große Feuersteinsplitter, nicht den Kern des Feuersteines. Er lebte in Höhlen und benutzte das Feuer zum Kochen. Er muß einige Vorstellungen von einer Geisterwelt und dem zukünftigen Leben gehabt haben, denn er begrub seine Toten mit Waffen und Gegenständen zusammen. Der Anführer der Gruppe …’“
    „Entschuldigt mich, meine Freunde“, unterbrach Alar ruhig. „Ich bemerke einen Fünfundfünfziger.“ Seine Finger flatterten weiterhin ohne Unterbrechung durch den zweiten Satz der Pathetique. Seitdem er anfangs als Reaktion auf die Beschleunigung seines seltsamen Herzens quer durch das Zimmer und zum Fenster hinausgeblickt hatte, war er mit den Augen nicht mehr von den Noten gewichen.
    „,Der Anführer’“, fuhr Corrips fort, „‚grauhaarig, unruhig, hielt inne und sog schnuppernd die Luft ein, die das Tal heraufstrich. Ein paar hundert Meter weiter unten im Luftstrom roch er Rentierblut, aber auch einen anderen, unbekannten Geruch, dem stinkenden Gemisch von Ruß, Schweiß und Kot ähnlich und doch nicht ähnlich, der für seinen eigenen Haufen charakteristisch war.’“
    Haven erhob sich, klopfte mit der Pfeife leicht auf den Aschenbecher, der sich auf dem großen Tisch befand, streckte die kleine, sehnige Gestalt mit tigerhaftem Behagen und ging langsam zur Kaffeekanne am Fenster hinüber.
    Alar war jetzt schon ziemlich am Ende der Pathetique angelangt. Er beobachtete Haven sorgfältig.
    Corrips dröhnte klangvoll weiter, ohne die Betonung im geringsten zu verändern, aber Alar wußte, daß der Ethnologe seinen Mitarbeiter aus den Augenwinkeln beobachtete.
    „,Der Alte wandte sich dem winzigen Haufen zu und schüttelte seinen mit einer Feuersteinspitze versehenen Speer, um anzuzeigen, daß er die Spur gefunden hatte. Die anderen Männer hielten die Speere, zum Zeichen dessen, daß sie verstanden hatten und schweigend folgen würden, in die Höhe. Die Frauen verloren sich im spärlichen Gebüsch der Talhänge.
    Die Männer folgten dem Rentierpfad durch die Rinne hinab und erspähten innerhalb weniger Minuten im Dickicht einen alten männlichen Eoanthropus, drei Frauen unterschiedlichen Alters und zwei Kinder, die sämtlich, zusammengekrümmt schlafend, unter einem Windschutz aus Zweigen, der über das Ufer des Rinnsals herabhing, lagen. Stockendes Blut troff noch immer aus einem halbverzehrten Rentierkadaver, der unter dem Kopf des alten Mannes lag.
    Alar folgte Haven mit zusammengekniffenen Augen. Der kleine Biologe schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, dick wie Schlamm, fügte aus dem kleinen Kühlschrank ein bißchen Sahne hinzu und rührte geistesabwesend um, während er aus dem Dunkel des Raumes durchs Fenster hinausblickte.
    Irgendein sechster Sinn warnte den

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