Der Mann ohne Vergangenheit
achtzig Millisekunden lang subnormal, dann wieder normal. Gerade jene fünfzehn Millisekunden dauernde hyperempfindliche Periode halte ich für ungemein nützlich …“
Keiris schrie.
„Wunderbar!“ krächzte Shey und schaltete den Hebel auf dem schwarzen Behälter aus. „Und das war nur ein einziger Nerv im Arm. Es ist ungeheuer faszinierend, ein paar Elektroden den anderen hinzuzufügen, bis die Arme voll davon sind, auch wenn das Versuchsobjekt dies im allgemeinen nicht überlebt.“ Er wandte sich wieder dem Behälter zu.
Irgendwo im Raum tickte ein Radiochronometer die Sekunden mit spöttischer Dumpfheit.
Alar starrte das bärtige Gerippe im Spiegel in ungläubigem Staunen an.
Welche Stunde?
Welcher Tag?
Ein scharfer Blick auf den Chronokal zeigte seinen ungläubigen Augen, daß sechs Wochen vergangen waren, seit er sich in seinem verzweifelten Wettlauf gegen den Augenblick, da ihn die vereinte Macht von Dieben und Kaiserlichen aufspüren und töten würde, hier unter der Mondstation in seinem Arbeitszimmer vergraben hatte.
War es ihm wirklich geglückt, das Geheimnis der Sternen-Karte zu lösen?
Er wußte es nicht.
Er glaubte herausgefunden zu haben, was jenes leuchtende Rad in der rechten unteren Ecke des Negativs war. Er hatte einige hochinteressante Anomalien in den Spiralnebeln des Weltraums dazwischen ausgemacht und hatte sich mehrere Erklärungen zurechtgelegt, von denen keine völlig befriedigend war. Er fragte sich, ob das Gehirn die Antwort kannte. Er vermutete, daß es sie kannte.
Jeder außer ihm schien alle Antworten zu kennen. Es lag beinahe eine komische Ungerechtigkeit darin, daß er, der Besitzer der Wunderohren und Wunderaugen, der in jener Nacht in Sheys Schreckenskammer den Saum der Göttlichkeit gestreift hatte, selbst so wenig wußte.
Und jetzt diese seltsame und wunderbare Sternenkarte – sie enthielt etwas, was er nach Meinung des Gehirns wissen sollte. Aber was?
Er kratzte sich abwesend am Bart und ließ dann die Augen im Arbeitszimmer umherschweifen. Von der Deckenlampe hing ein kleines dreidimensionales Modell der Milchstraße herab. Es sah aus, als wollte es sich für die lächerliche Szenerie darunter entschuldigen, die aus Büchern – riesigen, winzigen, grellen, unauffälligen Büchern in allen möglichen Sprachen der fernen Erde – bestand.
Sie lagen über Boden, Sessel und Tische verstreut und reichten halb die vier Wände hinauf – eine zerklüftete Landschaft, die hier und da von Tälern durchzogen wurde, die Alar in den vergangenen Wochen bei seinem Aufundabgehen auf dem Fußboden hinterlassen hatte. Die Täler waren vom verlorenen Geröll weggeworfener Kritzeleien bedeckt.
In einem Gletscherkreis des Buch-Matterhorns, das sich über seinem Arbeitstisch erhob, war feierlich sein Mikroskop aufgestellt, umgeben von einem grauen Schuttkegel von Negativen.
Sein umherwanderndes Auge fiel auf. eine glitzernde Tube Enthaarungsmittel, die zwischen den Seiten von Muirs Weltraummechanik hervorspähte. Einen Augenblick später stand er erneut vor dem Spiegel und rieb sich nach und nach den Bart ab, gefolgt von einer neugierigen Besichtigung, wie es Männer unweigerlich zu tun pflegen, wenn sie sich nach langer Abwesenheit von der Zivilisation den Bart scheren.
Als jedoch die Stoppeln alle fort waren, war er entsetzt über die Blässe seines Gesichts. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er zuletzt geschlafen oder gegessen hatte. Er konnte keines dieser Ereignisse exakt einordnen. Er erinnerte sich nur undeutlich, mit bloßen Fingern tiefgekühlte Würfel von Gemüsesuppe verschlungen zu haben.
Er ging zum Bullauge hinüber und schaute hinaus in die Schwärze auf einen Kamm gezackter Mondberge, die die untergehende Sonne silbern einfärbte. Die gewaltige Pracht der Erdsichel hing genau über dem Kamm. Wie gern wäre er jetzt dort und würde Fragen an das Gehirn, an Haven – und Keiris – richten. Wie lange würde es dauern, bis es auf der Erde wieder Sicherheit für ihn gab? Vielleicht nie, wenn sowohl Diebe wie Kaiserliche auf der Suche nach ihm waren. Es war ein Wunder, daß seine Köpenickiade hier im Observatorium noch nicht aufgeflogen war.
Er schüttelte verzweifelt den Kopf. Was ihm fehlte, war ein flotter Spaziergang durch die leeren Straßen von Selena – der Mondsiedlung, wo die Belegschaft des Observatoriums mit ihren Familien untergebracht war. Er ging zur Duschkabine.
Alar war ungefähr eine Stunde lang durch die Straßen gewandert, als er
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