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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
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organic, links und peace, und natürlich riecht es ein wenig muffig nach Körnern und Menschen, die ihren eigenen Geruch nach Mensch schätzen. Da sitzen solche, die eindeutig zu lange von zu Hause weg sind, mit Computern und schreiben Briefe an die Freunde in der Heimat, die vermutlich seit Jahren tot sind. Grauhaarige Hippies, die so wenig hierhin gehören, wie man es eben tut, wenn man den Platz, an dem man geboren wurde,verlässt und sich irgendwo aufhält, wo eine fremde Sprache gesprochen wird. Es ist normal geworden, keine Wurzeln mehr zu haben. Nicht in Orten, nicht in Familien. Kein Grund, sich zu beklagen. Dafür leben wir heute länger. Wenn auch nicht ganz klar ist, wozu.
    Mit mir sitzen zwei Damen im Raum, die wirken wie müde Raben. Sie beobachten schweigend den Bildschirm eines Computers, vermutlich lesen sie Nachrichten aus der Heimat, und es wäre ihnen eine willkommene Abwechslung, ginge ich zu ihnen und forderte sie auf, mir von ihrem Leben zu erzählen. Vermutlich heißen die Damen Kate und Milly und stammen aus Oregon und Wales. Die eine hätte als Personalchefin bei einem amerikanischen Unternehmen in Hongkong gearbeitet, die andere war vermutlich mit ihrem Mann, einem gelben Systemanalytiker, hierhergekommen. Dann hatte das Leben sie mit seinem rasanten Ablauf überrascht. Kates Mann war gestorben, die Kinder in Australien, Milly wurde pensioniert, und den Kontakt zur alten Heimat hatten beide mit dem Tod der Eltern verloren. Jetzt wohnten sie zufällig als Nachbarn auf der Insel, wussten sich nicht zu trösten, aber sie saßen jeden Tag hier, um zusammen Zeitungen im Internet zu lesen, während sie auf den Tod warteten und vielleicht noch eine Reise nach Thailand planten.
    Ein anderer Gestrandeter am Nebentisch hat lange weiße Haare, und unglücklicherweise bemerkt er, dass ich ihn betrachte. Er prostet mir mit seinem Kräutertee zu und rückt seinen Stuhl wenig später zu mir. Ich versuche zu tun, wie ich denke, dass ein Taubstummer es täte, das hält den Mann aber nicht davon ab, das Reden zu beginnen. »Ich bin Rob«, sagt der alte Zausel, und wer sich so vorstellt, der hat sicher gelesen,dass ein fester Händedruck ebenso die Visitenkarte eines charaktervollen Menschen ist, wie das Halten von Blickkontakt Ehrlichkeit signalisiert. »Waren Sie schon einmal an der Ostküste Englands?« fragt er mich und bohrt seinen Blick in meinen. Ich bin an der Ostküste Englands gewesen. Ich habe vergessen, warum, erinnere mich jedoch lebhaft an die Erkältung, mit der ich verwirrt auf dem kalten Bett eines zugigen Hotelzimmers saß, das unglaublich viele geschnitzte Details aufzuweisen hatte. Während des Wochenendes meiner Anwesenheit heirateten im Ort ungefähr zwanzig dicke englische Paare, da musste eine romantische Kapelle stehen, und rollten im Anschluss an das Ereignis kichernd durch die Korridore. Ich war mit stark erhöhter Temperatur im Ort herumgeschlichen und hatte mich vor dem Meer gefürchtet, das wie ein böses Tier neben der Stadt lag, hatte gefroren in weißen Backsteinhäusern bei schlechtem Tee, war ratlos gewesen und hatte mich gefragt, warum Touristen freiwillig an solche Orte kamen und froren und durch die drei blöden Gassen liefen.
    »Nein«, antworte ich dem alten traurigen Huhn, das mir immer noch ins Gesicht starrt. »Tut mir leid. Ich war nie dort, und ich muss gehen, meine Wechseljahre, Sie verstehen«, sage ich und verlasse das Café. Das Letzte, was ich will, ist mir vom Heimweh eines Engländers berichten zu lassen.
    Es regnet immer noch nicht.

Damals.
Vor vier Jahren.
    Das Einzige, was mir das Zusammenleben mit mir erträglich machte, war, dass ich mich nicht zu oft sah und selten reden hörte. War ich mir geraume Zeit ausgesetzt, in zu heller Beleuchtung, begann ich dem Klang meiner Stimme zu folgen oder die Haut auf meinen Armen zu studieren. Ich wollte weder mich noch andere zu ausführlich beobachten. Ich verkehrte mit Menschen nur noch für die Dauer eines eingängigen Essens und taugte nicht zum Aufsuchen einer Demonstration, einer Ferienreise oder einer Tour in die Höllenschlucht.
    Ich war in einem Restaurant verabredet, das Zum Knochen, Zum Schlachter, Zum Rind hieß, das war gerade Mode, nach all den Lokalen, die ein Les oder ein Da im Namen hatten, erdige Schlichtheit, die dem Kunden das Gefühl von Scholle und Heimat geben sollte.
    Ich kam an einer sich fotografierenden Gruppe Touristen vorbei, und es gelang mir, mit verzerrtem Gesicht ins Bild zu

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