Der Mann schlaeft
Sie redeten von Liebe, wenn sie Leidenschaft meinten. Der Leidenschaft, die ich für den Mann empfand, wohnte wenig Körperliches inne. Ich hatte, um es genau zu sagen, selten das Gefühl, ich müsse ihm die Kleider von seinem Körper entfernen und gierig meinen Mund auf den seinen pressen. Wenn eseine Leidenschaft gab, dann die, mit der ich ihn beschützen wollte. Mit der ich böse wurde, wenn ich meinte, dass er ungerecht behandelt wurde. Mit der ich Angst hatte, wenn er auf der Straße war, denn die war gefährlich wie das Leben. So schnell ging etwas kaputt an einem Menschen, leidenschaftlich konnte ich weinen, weil ich mir vorstellte, wie es wäre, wenn ihm etwas passieren würde. Ich wachte über seinen Schlaf, wenn er krank war, denn ich wollte bereit sein, Hubschrauber zu rufen, falls sein Atem aussetzte, ich konnte mich leidenschaftlich freuen, wenn ihm wohl war, wenn er strahlte, und ihn beobachten, seinen merkwürdigen Gang, die Bewegungen, die mich oft an einen sehr großen Menschenaffen erinnerten.
Er war der geworden, der mir am nächsten stand, der sich an mich gewöhnt hatte und der wollte, dass es mir gutging. Wir waren uns einig, alle, die gegen uns waren, als Feinde zu betrachten, die wir gemeinsam ignorieren konnten. Wenn man das Liebe nennen mag, dann eben. Bitte. Mir wäre es wohler gewesen, ich hätte ein eigenes Wort erfinden können. Aber dazu war ich zu beschäftigt, mit der Entwicklung eines diffizilen Impfstoffes. Wir hatten uns im Bett eingerichtet, mit Zeitungen, Tee, den Computern, ab und an lasen wir einander etwas vor, aber so selten, dass es den anderen nicht störte auf seiner Welle der Faulheit. Als es noch dunkler wurde draußen, ging der Mann in die Nacht, um vom schlechten einzigen Chinesen in Ascona etwas zum Essen zu holen, und ich starrte unruhig von oben auf das Wasser, bis er wieder zurück war. Immer in Sorge, dass er wegbleiben könnte, und dann kämen Polizisten und würden sagen: »Waren Sie die Lebensgefährtin des Mannes?« Und ich würde nicken. Und soweiter. Doch er kam zurück, und ich glaubte, wenn es selbstverständlich wird, irgendwann, dass er wiederkommt, dann müsste man doch tot sein oder ein mentales Problem aufweisen. An jenem Abend kam er zurück, um mich mit Nahrung zu versorgen, kam zurück, um mit mir wieder zu Bett zu gehen, das immer noch in einem Meer schwamm, das aber nichts Bedrohliches hatte. Nur ein Meer und ein sicheres Boot. Normal.
Heute.
Abend.
Das Haus, in dem sich Kim mit ihrem Großvater eine Wohnung teilt, ist mir bereits vor Wochen aufgefallen. Es ist so nachhaltig von den Luftwurzeln eines Baumes bedeckt, dass es wirkt, als hätte der Baum das Haus gefressen und es würde in seinem Magen noch ein wenig traurig schauen, aus halberleuchteten Augen, bis es völlig verdaut ist.
Kim steht mit den Füßen nach innen gedreht vor der Haustür, und in diesem Moment sieht sie sonderlich unattraktiv aus. Sie ist eines dieser hässlichen Mädchen, deren Körper zu dünn, deren Brille zu groß, deren Haare zu ausdruckslos sind, und natürlich trägt sie eine zumindest innere Zahnspange. Sie gehört zu der Sorte, die in traurigen Filmen am Ende Schönheitskönigin werden, mit dem Alphajungen der Klasse eine Beziehung eingehen oder ein Superheldinnentalent an den Tag legen. Im Leben, das nicht Film ist, wird Kim vielleicht einfach von einem hässlichen Mädchen zu einer hässlichen jungen Frau werden, keinerlei Spuren hinterlassend. Wenn Kim spricht oder sich bewegt, vergisst man ihr Aussehen, weil sie nichts Kindliches an sich hat, das man hätte bemitleiden müssen. In ihrer seltsam humorlosen Art erinnert sie einen eher an die Vorsteherin einer naturkundlichen Bücherei als an ein Mädchen.
»Wollen wir nicht lieber noch ein wenig über Ihre Probleme sprechen«, bietet Kim an, um noch nicht zu ihrem Großvater zu müssen, aber leider habe ich dazu keine Lustund schiebe sie vor mir her, die steile Steintreppe hoch in den zweiten Stock des Hauses.
Als wir die Wohnung betreten, die durch die Baumwurzeln, die von außen durch das Fenster zu dringen scheinen, ein wenig unheimlich und zugleich behütet wirkt, sehe ich Kims Großvater erst nach einigen Sekunden. Er sitzt auf einem unbequem wirkenden Holzstuhl und liest eine Zeitung mit der Anstrengung eines Menschen, der Worten misstraut.
Sein Äußeres deckt sich mit dem Bild, das ich mir, ohne wirklich lange zu grübeln, von ihm gemacht habe, es ist der grimmig wirkende Mann, den ich ein paarmal
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