Der Mann schlaeft
flüchtig gesehen hatte.
Wäre Kims Großvater ein Tier, dann ein Mastiff, mit einem gedrungenen Körper, der beeindruckend viel Kraft zu haben scheint, Muskelberge und große Hände, typische Mastiffhände, unter altersloser brauner Haut, ein Millimeter kurze weiße Haare und trübe Augen. Der Masseur weist mich mit einem kurzen Nicken an, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und es würde mir nicht einfallen, eine derart charmante Einladung auszuschlagen.
Als ich auf dem unbequemen chinesischen Holzstuhl, jener Sorte, von der ich vermutet hatte, sie würde ausschließlich für in Europa stationierte Chinarestaurants hergestellt, Platz nehme, beginnt der Masseur, mich seltsam leer anzustarren. Wäre ich in einer anderen Verfassung, würden mich sein Blick und sein Schweigen nervös machen, doch mein innerlicher Aufenthalt auf einem Parkplatz am Tor zur Hölle lässt mich jede Stumpfheitsolympiade gewinnen. Unser Starren und Schweigen scheint Kim unangenehm zu berühren, sie stellt eine Kanne Tee vor uns und huscht im Anschluss leise in ihrZimmer. Ich studiere die Wohnung, die einen sehr unentschlossenen Eindruck macht. Früher wollte sie mal gemütlich werden, doch die alte Schusswunde war wieder aufgebrochen. Oder die Frau hatte die Hälfte der Möbel mitgenommen. Mir fällt ein, dass die Frau des Masseurs gestorben ist, und ich frage mich, ob es vielleicht chinesischer Brauch ist, dass die Hälfte des Besitztums mit der Leiche verbrannt wird. Das Ableben der Masseursgattin erklärt die scheinbare Verwahrlosung des älteren Herrn. Witwer haben selten einen optischen Lebensentwurf, der einen zu kleinen Tänzen animieren würde. Es ist sauber in der Wohnung, auch die Kleidung des Herrn ist in Bestform, aber jedes kleine Accessoire, das Wohnung oder Mann mit Leben hätte erfüllen können, fehlt. Beide tragen Trauer.
Irgendwann scheint Kims Opa genug gestarrt zu haben. Eine Bewegung geht durch seinen Körper, und mit einer Stimme, die ein wenig eingerostet scheint, fragt er: »Vielleicht würde es Sie und die Situation ein wenig auflockern, wenn ich Sie massiere.« Da er vermutlich besser massieren als reden kann, nicke ich. Man muss die kleinen Gesten sprachloser Männer zu würdigen wissen. Er weist auf seinen Massagestuhl, auf dem ich, halb hängend, das Gesicht in eine Öffnung presse. Vielleicht hat Kims Großvater die Güte, mich mit einem Beil in Teile zu zerlegen, und die Fleischbrocken, die mich gebildet hatten, an Fische zu verfüttern, in deren Bäuchen ich durch die Welt schwömme. Vielleicht würde ich Stromschnellen sehen, in Finnland, falls der Fisch ein Lachs ist. Oder ich werde als Thunfisch von gefräßigen Japanern verdrückt. Nichts scheint mir als Alternative unzulänglich. Unter der ersten Berührung erstarre ich. Es ist Wochen her,dass ich berührt wurde, Kim hat mich kurz unbeholfen gestreichelt, und Chinesen haben mich angerempelt, aber ich glaube, das kann man nicht unbedingt zählen. Ich weiß nicht, ob mir das Massiertwerden wirklich wohltut. Ich versuche, während der Stunde nicht zu weinen, es wäre mir unangenehm, des Klischees wegen. Als der Masseur fertig ist, legt er sich sein Handtuch um die Schulter und geht in der großen Wohnung ans Ende des Flurs. Ich weiß nicht, ob das jetzt die Verabschiedung ist, doch er winkt mich zu sich, öffnet eine Tür und schaltet das Licht an. Ich stehe in einem sympathischen kleinen Zimmer mit einer freundlichen Terrasse, der persönlichste Raum der Wohnung. Der Masseur sagt: »Vielleicht gehen wir zu Ihnen, holen Ihre Sachen und Sie ziehen hier ein, für die Dauer Ihres Aufenthaltes. Es wäre gut für Kim. Und für Sie.«
Danach fällt er wieder in starres Schweigen, das seine vorherigen Worte unwirklich macht. Draußen setzt schwerer Regen ein, dessen Geräusche unser Schweigen lauter werden lassen. Ich sehe mich in der alten Wohnung auf dem Bett sitzen und setze mich probehalber auf das neue. Eindeutig das bessere Gefühl. Aber wie kann ich die letzte Verbindung trennen, und wie sollte mich der Mann finden, käme er zurück?
Als würde der Masseur, mit dem mich weniger verbindet als mit mir, was ein Höchstmaß an Nichtverbindung bedeutet, neben seinem eigentlichen Beruf auch Gedanken lesen können, sagt er: »Wir lassen einen Zettel mit Ihrer neuen Adresse an der Tür. Ich kenne den Vermieter der Wohnung und trage Sorge, dass er nicht entfernt wird.« Das Englisch des alten Mannes ist nicht schlecht. Weit entfernt von der fließenden Beherrschung
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