Der Mann schlaeft
hörten, dessen Anführer im Tessin saß. Die beiden Männer interessierten sich zwar nicht für Sekten, Religion und Gurus, doch waren beide in einer Phase ihres Lebens, in der sie in einem Meer schwammen, in dem sie zu ertrinken drohten. Was ihnen fehlte, war eine Insel in Sichtweite, und so war es ein Zufall, dass sie am nächsten Tag in einem Reisebüro die Brissagoinseln auf der Broschüre zum Reiseziel Tessin entdeckten. An dieser Stelle ihrer Geschichte versuche ich, mich ausschließlich auf die Geschichte der beiden zu konzentrieren und alle Bilder, die sich einstellen wollen, zu verdrängen. Es gelingt mir.
Rob und Ben fuhren ins Tessin. Im Verlauf der Reise, die, weil sie hatte billig sein müssen, drei Tage und Nächte dauerte,die beide im Sitzen zurücklegen mussten, begannen sie sich zu unterhalten, ohne eine Pause einzulegen.
Diese neue Erfahrung fühlte sich wie Verliebtsein an, war es vielleicht auch, denn so wie man sich in Landschaften oder Häuser verlieben kann, kann man auch dem Gefühl, endlich verstanden zu werden, mit Euphorie begegnen.
Noch ehe sie Ascona erreichten, hatten sie sich fast alle ihre Träume anvertraut, von deren Existenz sie nicht einmal gewusst hatten. Im Tessin hatten sie zusammen in einem billigen Zimmer übernachtet und sich ab und an die Hände gehalten. Sonst war nichts passiert. Sonst war, wenn man die beiden ansah, nie etwas passiert. Über die Sekte war nicht viel zu hören. Vermutlich der übliche Alphamann, der eine vertrottelte Gemeinschaft mit Phantasievorstellungen an der Nase herumführte – Quark. Die beiden waren ein paar Wochen im Tessin geblieben, um sich über ihre weiteren Stationen klar zu werden. Was sie mitgenommen hatten, war die Idee, einen strahlenundurchlässigen Apparat zu bauen, eine Art Arche, denn sie waren von der Überschwemmung großer Teile der Welt überzeugt. An dieser Stelle lohnt doch ein Nachfragen, und ich möchte wissen, was die beiden machen wollen, in diesem Tank auf einem Riesenmeer, über einem ertrunkenen Planeten. »Selbst bestimmen, wann wir gehen«, sagt Ben. Und ich denke: Gute Antwort. Die einzige Freiheit, die uns bleibt. Und ferner denke ich an den Zwerg und seinen Nemo-Schwimmkörper aus Metall, und ich frage mich, ob das noch ein Zufall sein kann, dass er mir hier wieder begegnet.
Rob und Ben halten sich an den Händen und schauen in den Himmel, vermutlich, um ihn nach Regenwolken abzusuchen,Kim ist eingeschlafen, und ich beschließe, sie nach Hause zu bringen. Um mir dort darüber klar zu werden, was für verwirrende Informationen ich gerade erhalten habe.
Damals.
Vor zwei Jahren.
Da war ein Sonntag und Regenzeit, im Herbst oder Frühjahr. Ich erinnere mich an jenen Tag, weil er so typisch war, und freundlich in seiner großen Sinnlosigkeit. Kollektiv haben wir uns auf Effektivität geeinigt und bewundern in unserer knapp bemessenen Zeit die entspannten Kinder in den Slums von Rio, die einfachen, herzensguten Inselbewohner auf Guadeloupe, wie sie den Tag verstreichen lassen mit Sitzen in der Sonne und fliegenden Fischen beim Fliegen Zusehen. Doch wir sind aus dem Norden, da ist es kalt und nicht lebenslustig, da wird nicht auf den Tischen getanzt, und wenn man nicht mindestens einmal am Tag eine Atombombe erfindet, zählt es nicht. Und wenn man nicht in einem Interview, so man eine Person von durchschnittlichem Interesse ist, als größten Wunsch angibt: »Ich möchte mehr Zeit haben«, sieht man sich schon bald einer Mauer aus Unverständnis gegenüber. Ich möchte nicht mehr Zeit haben, die vorhandene ist völlig ausreichend, zumal ich mich nicht einmal mit der Erforschung eines raren Impfstoffes beschäftige.
Wir wurden von Niederschlag geweckt, der auf dicke Blätter traf, Depression Tropical, seit einer Woche regnete es, als versuche der Himmel, alle Einrichtungen mit festem Boden aufzulösen wie Magnesiumgranulat. Ich war im Halbschlaf so froh gewesen, dass ich nicht gegen Gott kämpfen musste wie andere, die mit religiösem Wahn aufgewachsen sind und kämpfen gegen eine Fabelfigur, wie konnte das wohl ausgehen.Jene, die kämpften, waren doch immer die mit den schlechten Nerven, mit den Magengeschwüren, der bleichen Haut, den Pickeln, der Homosexualität, die konnten doch nur verlieren. Nicht mehr kämpfen, nie mehr, und mich nicht mehr als Außenseiter fühlen, als Freak, als Kind, das nicht in die Mannschaft gewählt wird, als eines, gegen das die Gruppe sich immer entscheiden wird, immer, wenn man sie
Weitere Kostenlose Bücher