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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
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theoretischen Entwurf hatte ich Mann und Frau beim anderen ankommen sehen, immer war einer der beiden regennass und trug ein weißes Leinenhemd, und dann tropften die Haare, die immer schwarz waren, und die beiden standen im Regen und rissen sich die weißen Hemden vom Körper, fielen in den Schlamm, wälzten sich darin herum, bissen sich und verkehrten miteinander, bis der Morgen die Nacht ablöste. Schnitt. Im nächsten Bild saß das Paar dann ohne Übergang in zwei Schaukelstühlen vor einem Kaminfeuer, trank Rotwein und las sich aus Erstausgaben vor, wobei ich weder Wein trank noch genau zu sagen wusste, was eigentlich der Schmackes an einer Erstausgabe war.
    Da konnte man nur verlieren, suchte man sich in den Wahrnehmungen anderer zu spiegeln. Mein momentaner Bezug zur Außenwelt war sehr überschaubar, bestand aus nur einem Menschen, und das Geheimnis war nicht neu. Die Familie als kleinster Nenner aller Sehnsüchte und Reflexionen.Man konnte lieb zu seiner Bezugsperson sein, und wenn es kein völliger Idiot war, würde er einem die Anteilnahme, die man ihm entgegenbrachte, danken und einen nicht verlassen kurz vor dem Tod.
    Ich konnte mir nicht vorstellen, dem Mann Schaden zuzufügen oder ihm auch nur ein Bein zu brechen. Ich hatte ihn bedingungslos gerne, und ihm irgendeine Bosheit anzutun lag völlig außerhalb meiner Vorstellung. Ich war mir sicher, dass ich ihn für nichts an irdischen Gütern verlassen würde, und selbst nicht um die Zusicherung ewigen Lebens. Ich hätte einen solchen Verrat nicht unbeschadet überstanden und konnte nur hoffen, dass es dem Mann genauso ging.
    Am Nebentisch hatte ein Herr Platz genommen, der mir in den Bruchteilen von Sekunden, in denen ich ihn wahrnahm, Angst machte. Es schien der zu sein, mit dem ich irgendwann einmal im Zug gesessen hatte, der unsichtbare Mann, den ich vermeintlich einmal in unserem Garten hatte stehen sehen und der die Verkörperung von alldem zu sein schien, was die Welt zu einem unangenehmen Ort machte. Immer zu kurz gekommen, immer das Gefühl, dass ihm doch mehr zustünde, immer alle anderen hassend.
    Aber vermutlich handelte es sich nicht um denselben Mann, von der Sorte gab es ja Millionen.
    Und überdies war mir heiß.
    Der Sommer bedeutet, dass die Touristen kommen. Die Täler sind überfüllt mit wandernden Bibelgruppen und Obertonsängern, die für den Rest des Jahres unbewohnten Villen füllen sich mit Paaren aus Wuppertal und Göttingen, die in großen Mercedes-Allrad-Wagen durch die Gegend fahren und Schlager hören dabei. Die Paare tragen Polohemdenund Mokassins, manchmal gibt es Kinder, die tragen dasselbe. Jedes Hotelbett belegt, jede Ferienwohnung ein Jahr im Voraus gebucht. Die Menschen machen gerne Urlaub unter ihresgleichen, und hier verkehren fast ausnahmslos deutsche und deutschschweizer Paare über fünfzig. Sie führen Jack-Russel-Terrier bei sich, die ja auch nichts dafür können. Die Tessintouristen sind keine schlechten Kerle, nur so unerträglich lauwarm. Sie lesen alle die gleichen Nachrichten, von nicht einmal lauwarmen Menschen zusammengelogen, sie hören Swing oder netten Jazz mit Saxophonen, der perfekte Klang des Nichts, sie sind satt und haben in den Orten, wo sie wohnen, vermutlich kleine Eigentumswohnungen, die sie abbezahlen und die sie verteidigen, mit Observierung des Nachbarn, des Eindringlings, des Feindes, gegen die Bedrohung der kleinen Zufriedenheit, die sich verdammt noch mal nicht einstellen wollte. Da ist immer so ein Nagen, weil sie sich doch gegenseitig das Leben so unzumutbar machen.
    Die unselige Idee zu verreisen entstand damals. An jenem heißen Nachmittag.

Heute.
Nacht.
    »Also dann, Zimmer!« sage ich, das Zimmer sagt nichts dazu. Ich packe unsere Sachen und stelle mich in alle Ecken, ich krieche sogar unter das Bett, um Abschied zu nehmen. Es ist vermutlich die richtige Idee, die Wohnung zu verlassen, in der jedes Küchengerät wirkt, als befände es sich noch in seiner Hand.
    Ich würde nicht so weit gehen anzunehmen, dass ein allgemeingültiger Fluch über der Wohnung liegt, aber da ist eine Kälte in ihr, die man auch in Häusern vorfinden kann, in denen Gewalttaten stattfanden.
    Die neue Adresse hatte ich in einen Umschlag gesteckt, »MANN« darauf geschrieben und ihn neben der Tür befestigt.
    In Büchern, die ich mochte, früher, würde jetzt ein sprechendes Tier erscheinen. Ein Fuchs. Und er würde mir sagen, dass ich einige Mutproben zu bestehen hätte. FKK-Zelten oder »Nigger,

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