Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
Vom Netzwerk:
erinnerte mich körperlich an die große Verspannung und die unerträgliche Müdigkeit auf griechischen Inseln und an die Panik, aus diversen Gründen für immer dort bleiben zu müssen. Ich hatte diese Sucht, möglichst viel zu sehen, nie verstehen können. Es war offensichtlich, dass man in seinem Leben nur eine sehr begrenzte Anzahl Eindrücke würde sammeln können, und die Frage durfte erlaubt sein, was mit den Eindrücken nach unserem Ableben geschah. Und sollte man noch am Leben sein, so verstand ich nicht, welches Wohlgefühl es den Menschen bereitet, in ausschweifende Erzählungen Fakten über die von ihnen besichtigten Orte einzubauen. Sie erinnerten sich an Straßennamen, an Speisekarten in französischen Bistros und an Wandmalereien in georgischen Höhlen. Die Frage nach dem Sinn solcher Gedächtnisübungen durfte gestattet sein, doch vermutlich war das Sammeln von Erinnerungen genauso albern wie fast alles, was Menschen mit ihrer Zeit anstellten.
    Japan bot alle Voraussetzungen, sich unwohl zu fühlen. Ohne jedes Schulterzucken des Bedauerns hat die Ökonomie den Kampf gegen den Menschen aufgenommen, und wie es aussah, stand der Sieg kurz bevor. Zwischen riesigen Anhäufungen von Beton fuhren Autos im Schritttempo, Einzelpersonen darin, die größte Teile ihrer voraussichtlichen Lebenszeit an Unternehmen verkauft hatten, die irgendwem am Ende einer langen Hierarchiekette gehörten, der daran verdient, dass die Welt immer furchtbarer wird, rein formal gesehen.Irgendwann hätte Schluss sein sollen, mit dem Bauen, mit dem Höher, dem Beton, den Autobahnen, den kleinen eingezäunten Flecken, der armseligen Bank und dem kranken Baum darin, den Parks, die die Abwesenheit von Natur symbolisieren und nur zum Selbstmord einladen. Aber aufgehört wird nicht und erst recht nicht, wenn es am schönsten ist, von der Optik her wäre das beim Menschen spätestens mit Ende zwanzig, und wehe, da wären keine Hochhäuser in der Nähe, von denen man sich hinabwerfen könnte.
    Der japanische Arbeitnehmer fährt am Morgen im Schritttempo seiner Firma entgegen. Die Klimaanlage im Auto macht frösteln, das Hemd zu eng, und Angst. Die schießt Adrenalin in die Umlaufbahn, das Herz zu schnell. Nie kann er sicher sein, dass sein Arbeitsplatz noch vorhanden ist, dass da nicht einer sitzt, der aussieht wie er selber und erstaunt aufblickt und fragt: »Sie wünschen?« Und dann: »Bitte verlassen Sie mein Büro!« Und dann kommt der Sicherheitsdienst und hilft dem Herrn auf die Straße. Dieser Taumel, nachdem er die Firma verlassen hat, auf der Straße, wo alle ein Ziel haben, auf das sie sich schnell zubewegen, und er wird ihnen im Weg stehen. Und nachdem er acht Stunden auf der Straße gestanden hätte, unfähig, sich sein weiteres Leben zu denken, wäre er in Autos gestiegen und zurück nach Hause gefahren, eine Stunde im Schritttempo, die Wohnung, die die Hälfte des monatlichen Einkommens gekostet hätte, in einem Block mit hundert gleichen Wohnungen, in die nun überall Männer zurückkehren, und er würde die Tür öffnen, da wäre ein Mann bei der Gattin, der aussähe wie er selbst, und es gäbe Spaghetti.
    Wohin soll einer gehen ohne Religion, die die Stunden regelt,ohne den klaren Arbeitsauftrag, die uniformierte Kleidung, die sauber umrissenen Anforderungen des Konsums?
    Und es hilft doch nichts. Die dreihundertfünfzig Tage Arbeit, die funkelnden Toyotas, die dreißig Quadratmeter große Wohnung für eine Million, die Kleidung für die Gattin, die Maßhemden, die Visitenkarten, die rahmengenähten Schuhe, der Rest war auf dem Friedhof hinter dem Hotel zu besichtigen, auch da kein Platz, auf den Gräbern Holzlatten mit dem Totennamen oder was auch immer, die konnten uns ja viel erzählen, die Japaner, die man nicht verstehen wollte, weil sie nur eine Volksgruppe mehr sind, der der Kapitalismus komplett das Hirn weggeblasen hat. Es gab nirgendwo etwas Interessantes zu verstehen, denn der Antrieb war überall derselbe: Mehr.
    Allen wohnte die gleiche Gier und Beschränktheit inne, sie quälten andere, weil sie es konnten. Sie zeigten Nachbarn an wegen des Hundes, der an ihr Auto uriniert hatte, sie bespitzelten sich, stritten sich, misshandelten sich, als ob es kein Morgen gäbe, als ob wir unendliche Zeit hätten für all den Blödsinn, mit dem wir uns unsere Leben verderben. Jeder wollte recht haben, jeder wollte Geld, um sich Raum zu kaufen, in dem er nicht von anderen Menschen belästigt wurde. Ausschließlich darum

Weitere Kostenlose Bücher