Der Mann schlaeft
Scham.
Der junge Mann schaltete das Licht aus. Daran tat er gut, er brauchte seinen Schlaf, denn schon morgen konnte die Welt ihn als Star entdecken. Wieder einer, der meinte, er müsse allein aufgrund seiner Anwesenheit belohnt werden. All die jungen Männer, deretwegen ich mich in den letzten fünf Jahren schlecht gefühlt hatte, warteten auf ihre Entdeckung, als Künstler, Schauspieler, Literaten oder Sänger. Was jener dort, der in der Wohnung, zu der ich hinaufschaute, werden wollte, wusste ich nicht. Ich hatte ihn nie etwas gefragt, wusste weder von seiner Kindheit noch von seinen Träumen, denn ich ahnte, dass es Informationen waren, die ich schon zu oft erhalten hatte. Alle diese jungen Männer entstammten der unteren Mittelschicht, kamen aus unattraktiven Städten, das Verhältnis zu ihren Eltern war nach der Trotzphase ausnehmend gut, doch richtig verstanden sie den Sohn nie, der ausgezogen war, sein kreatives Potential auszuleben.
So wenig, wie sie mich zu überraschen vermochten, wusste ich mit etwas aufzuwarten, was einen jungen Mann interessieren konnte. Ich war weder reich, noch verfügte ich über blendende Kontakte zu irgendwem, mein Aussehen war ein schwaches Zitat früherer Attraktivität, und besonders unterhaltsam war ich auch nicht. Nicht für junge Männer, die in Bars herumlungerten und mit Ende dreißig in die Midlife-Krise kamen, weil ihre Schönheit verschwamm und der Erfolg sich nicht eingestellt hatte. Es war mir keine Genugtuung, dass ich bereits die Zukunft der Jungen kannte, die in wenigenJahren Tränensäcke und Bauchansätze haben, nach zu viel Bier und Zigaretten riechen würden, einer fragwürdig werdenden Jugendkultur nachhängend. Im Moment war ich alleine und wollte es nicht mehr bleiben. Ich wollte bei jemandem liegen, der nicht am nächsten Morgen verschwand, ich wollte keine albernen Anstrengungen mehr leisten, um jung zu wirken, was ohne Zweifel ein erfolgloses Unterfangen bleiben würde. Ich wollte mich ausruhen, denn die Jahre alleine waren anstrengend gewesen. Sich täglich von der Wichtigkeit, das Bett zu verlassen, überzeugen zu müssen, machte müde. Ein Sturm hatte sich entwickelt in der feuchten Luft, Wolken jagten am Mond vorüber, die Laternen hatten gelbe Kreise um ihr Licht gezogen. Ich wollte heim.
Heute.
Morgen.
Ich setze mich an den einen Tisch, der sich vor dem Café befindet, das von einem jungen Chinesen geführt wird und das ich jeden Morgen aufsuche, immer in Sorge, ich könnte bereits am Tisch sitzen, wenn ich das Café erreiche.
Der Chinese heißt Jack, der englische Name von den Eltern als eine Art Beschwörung gewählt, ein guter Chinese in der Verpackung der ehemaligen Unterdrücker, die das Land hatten reich werden lassen. Jack ist ein fleißiger Chinese geworden, der zwanzig Stunden am Tag arbeitet und vermutlich jetzt schon so viel Geld hat, dass er nie mehr arbeiten müsste, wäre da nicht die Gier des Menschen nach mehr. Jack bäckt Muffins und all diese aufgeblähten Mehldinger, die man bereits während des Essens als Brei im Magen sieht. Er stellt einen Kaffee und irgendein Gebäckstück vor mich hin, jeden Tag dasselbe, ich weiß nicht, warum er vermutet, dass ich diese Art von Frühstück bevorzuge. Wir haben das Thema nie besprochen. Wir haben noch nie etwas besprochen, was über die Wetteranalyse hinausgehen würde. Manchmal würde ich gerne wissen, warum Jack auf mich so befremdlich traurig wirkt. Aber ich wage nie, ihn anzusprechen, vermutlich interessiert es mich auch zu wenig.
Ich esse, weil verhungern zu lange dauern würde, ich habe darüber gelesen. Ich esse, weil etwas vor mir steht. Wenn nur das Schlucken nicht so mühsam wäre und das Starren dabei. Die kleinen Gassen der Insel, es sind ungefähr zehn, sindzu keiner Stunde des Tages leer. Immer läuft wer, rennt, hastet irgendwohin, einer Aufgabe hinterher. Eine schöne Sorte Menschen ist das hier, zart und elegant in den Bewegungen, und ich würde gerade mit jedem, der nicht ich ist, mein Leben tauschen. Statt meiner säße dann eine chinesische Angestellte der Kultur- und Bildungsabteilung vor Jacks Café, und ich ginge an ihrer Stelle in das Museum für Naturkunde in Hongkong. Ich käme eine Stunde vor Öffnung des Museums, das mir zu dieser Zeit am angenehmsten wäre, mit seinem Geruch aus Formaldehyd und Linoleumpflegemittel. Meine kleinen praktischen Schuhe quietschten auf dem sauberen Boden, wenn ich an interessanten Präparaten vorbeiginge, kontrollierend, ob sich
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