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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
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wenn sich der gleiche Effekt mit zwei Flaschen schlechtem Rotwein erzielen lässt? Betrunken sein heißt, nicht an Fragen zu verzweifeln, auf die es keine Antwort gibt. Der freie Fall in die Grube, die Hände, die sich an bröseligen Putz zu krallen versuchen, scheint aufgehalten oder egal. Ich habe das unbedingte Gefühl von Erleuchtung. Ich könnte sofort über Wasser laufen und schreien: »Lerne loszulassen, werde eins mit deinem Schmerz, vergiss dein Ego. Sieh nur mich: Ich habe auch keines mehr, und das macht mich zu einem hervorragenden Wasserläufer!«
    Etwas Alkohol ist geglückt, was vierzig Jahre ereignislosenLebens nicht vermocht haben. Ich sehe mich auf einer Wiese sitzen, mit einer Flasche in der Hand, ein langer Bart weht gütig, und junge Eleven mit weißen Gewändern springen wie kleine Böcke um mich herum. Ich glaube, ich brauche Luft, und entschuldige mich, um den Puderraum aufzusuchen. Der Boden ist schräg in diesen alten Gebäuden, beschwingt schlingere ich zum Ausgang. Ein wenig Nacht wird mir guttun, die Gasse betrachten, wo reiche Hongkonger Katzen herumschlendern, auf hohen Absätzen sich an chinesischen Männern festkrallend, die wie Karikaturen des alten Wortes »Yuppie« wirken. Großgewachsene Australier, die nach hübschen kleinen Hongkongkatzen Ausschau halten, mit klumpenförmigen Turnschuhen und weißen Beinchen, die in Bermudas stecken, stampfen, die anzusehen genügt, um zu wissen, dass sie nie eine schöne Chinesin besitzen werden.
    Die Gassen im Rolltreppenviertel bei Nacht wirken, als ob Gäste einer exklusiven Party von einem Raum zum nächsten schlendern. Ich bewege mich filigran zwischen duftenden, wie rosa Puderquasten wirkenden Frauen in perlmuttfarbenen Kleidern, ich folge ihrem guten Geruch durch die Nacht, als Teil der Festgesellschaft. Die lachenden Gruppen in den Bars und auf der Straße sind Freunde von mir, mit denen ich gemeinsam gefangen bin, in diesen drolligen verwelkenden Körpern. Wie viele meiner wiedergefundenen Kameraden würden sich jetzt auflösen, wenn sie könnten? Ob sie das Gefühl haben, der Höhepunkt ihres Lebens findet jetzt statt? Ende zwanzig, reich, arbeitssüchtig, in Hongkong, mit einem Appartement für fünftausend Dollar Monatsmiete, oder glauben sie, es ginge weiter? Nach diesem merkwürdigenBewertungssystem, das viele sich angelegt haben, denn weiter heißt einfach: mehr.
    Um den stetigen Fluss meiner originellen Gedanken nicht versiegen zu lassen, kaufe ich an einem Kiosk eine Flasche Wein, denn ich merke, dass mein verschwommener Blick ein wenig lichter wird, fast schon beginne ich mich allein zu fühlen, der Zustand ist mir so vertraut, dass er mich langweilt und ich ihn sofort ändern muss. Der Kioskinhaber, einer dieser gepflegten Hongkongchinesen, der vermutlich Chemie studiert hat und Violine spielt, betrachtet mich wohlwollend. Wenn ich Zeit hätte, würde ich mit ihm plaudern, doch draußen wartet das Leben auf mich.
    Ich geselle mich zu einer Gruppe junger Broker, die vor einer australischen Bar sitzen. Sie haben, trotz deutlicher Trunkenheit, ihre Krawatten nicht gelockert und geben mir das Gefühl, dass ihnen meine Anwesenheit äußerst willkommen ist. Auf der Straßenseite gegenüber bringt sich ein Elvis in Position. Immer diese Elvise und immer, immer diese weißen Anzüge. Sich als Elvis zu verkleiden ist mir ein noch unverständlicheres Hobby als Fliegenfischen. Meine neuen Brokerfreunde bestellen Getränke, und ich unterhalte sie mit interessanten Geschichten aus meinem Leben. In meinen Ohren summt ein hoher Dauerton, und mein Magen beginnt sich zu verkrampfen. Nachdrücklich beginnt mein Gesicht zu schmerzen, das Lächeln sitzt nicht. Auf dem Weg zur Toilette habe ich das Gefühl, dass meine Hose rutscht; als ich in der Toilette stehe, die Kilometer entfernt liegt, merke ich, dass die Hose mir halb in den Knien hängt. Im Spiegel offenbart sich mir Entsetzliches. Mein Gesicht ist glänzend, gelb und sieht versoffen aus. Ich starre mich ungefähr zehn Minuten an,dann übergebe ich mich ins Waschbecken. Danach sehe ich allerdings nicht besser aus. Noch gelber, noch glänzender, und völlig unverständlich ist mir der Ort meines Aufenthaltes. Kim und der Masseur werden sich Sorgen machen, das letzte Boot bereits verpasst, die Nacht vertan, mich zum Idioten gemacht, lächerlich sein, vor mir selber. Aber wenigstens ein anders Gefühl oder überhaupt eines, ich mache mich frisch, will meinen: Ich reinige mein Gesicht,

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