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Der Mann von Anti

Der Mann von Anti

Titel: Der Mann von Anti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ekkehard Redlin (Hrsg)
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und unvorstellbar frei, direkt in der glücklichen Zukunft aufzuwachen. Davon wissen ja Märchen und Legenden Sagenhaftes genug zu berichten: Rip van Winkle, Tannhäuser, Dornröschen; sogar Zwerg Nase träumte nur seine verkrüppelte Existenz während des Tiefschlafes, in welchen ihn die Pharmazeutin, und nichts anderes waren einst die Hexen, durch eine Suppe aus vielerlei Kräutern versetzt hatte. Das wäre was, selbst um den Preis einiger Alpdrücke, die Zeit bis zu den besseren Zeiten stracks zu verschlafen.
    Wenn’s weiter nichts ist! befand mein Herr Apotheker, entnahm seinem Giftschränkchen eine Schachtel – so ein Mittel gäbe es seit langem – und brachte weiße Pillen ans Tageslicht: pro Pille ungefähr zehn Jahre, je nach körperlicher Verfassung, unter Reduktion aller Leibesfunktionen bis aufs äußerst Mögliche; der Puls sinke auf zwei Schläge pro Minute, die Atmung höre fast ganz auf, der Zellabbau komme beinahe zum Erliegen, und die Temperatur passe sich der im Zimmer an; eine kräftige Mahlzeit genüge, den minimalen Kalorienbedarf des ruhenden Körpers zu decken. Ein Diner nährt rund fünfzig Jahre!
    An de Quincey denkend, der nach achthundert Tropfen Laudanum im Zustand mangelnder Kommunikationsfähigkeit eine große Chance verpaßt hatte, wollte ich klüger sein und erstand zwei von den Dauerschlaftabletten. Zwanzig Jahre, schätzte ich, würde ausreichen, das frohe, leidensfreie Futurum zu erreichen, wo alle Menschen Brüder sein würden; oder doch lieber nicht: Brüder waren sie schon, gedachte man der Archetypen Kain und Abel. Eher: Wo der Mensch dem Menschen ein Freund wäre; o ja – o wunderbar.
    Nudelsuppe, Rumpsteak und Pommes frites, zwei Gläser Bier dazu und eine Süßspeise, mehr würde ich die nächsten zwanzig Jahre nicht benötigen. Nach dem Essen schluckte ich die Tabletten und legte mich ins Bett. Wenig später fingen meine Gedanken und Vorstellungen an, sich der Kontrolle zu entziehen. Die Schlafzimmertür ging auf, und herein trat der Malaye, gestikulierte in meine Richtung und machte mir verständlich, daß er meine Nase zu erwerben wünsche, die plötzlich einen Meter lang geworden war. Ich hielt sie mit beiden Händen fest und flüchtete in eine Finsternis, in der mich keiner finden konnte und in der ich mich selber auflöste, selber zu Dunkelheit wurde, was ich jedoch nicht sah, sondern nur fühlte. In dieser Schwärze ertönte alle zwei Minuten ein hallender Gongschlag, und zwar derart eintönig, daß ich, obwohl nur noch als Zustand anwesend, müde wurde und endgültig einnickte. Gleich darauf erwachte ich wieder, überzeugt, bestenfalls fünf Minuten weggedruselt gewesen zu sein. Natürlich waren die Tabletten Betrug. Ich hatte mich an der Nase, die sofortiges Betasten als ganz normal registrierte, herumführen lassen. Der Apotheker hatte einen Scherz mit mir getrieben. Ich erhob mich und spürte Hunger: das wunderte mich nach der eben erst genossenen reichhaltigen Mahlzeit.
    Entschlossen, dem Apotheker mein Experiment zu verschweigen und so zu tun, als hätte ich ihn von vornherein durchschaut, stieg ich die Treppe hinunter und ging auf die Straße, über die Straße und die Straße entlang bis zur Ecke, wo sich die Apotheke befand beziehungsweise befunden hatte, denn als ich sie betreten wollte, war sie ein Tabakwarengeschäft, dessen Verkäuferin von einer Apotheke nichts wußte: sie arbeite erst seit zwei Jahren hier!
    Da fand ich den Spaß zu weit getrieben! Unglaublich, daß der Herr Apotheker während meiner kurzen Abwesenheit, um seinen Jux zu verifizieren, im Laufe einiger Stunden seine Apotheke sollte umgebaut haben. Ich starrte die Passanten an, entdeckte aber keine wesentlichen Veränderungen an ihnen. Auf dem weiteren Weg zur Hauptstraße kaufte ich am Zeitungskiosk ein »Abendblatt« wie an jenem Nachmittag; diesmal reichte es mir statt der alten Zeitungsfrau eine junge. Dann entdeckte ich das Datum: 20. Mai 1990.
    Die Tabletten hatten gewirkt. Ich war in der Zukunft. Ich las begierig die erste Seite: derselbe Krieg wie vorhin, nein, wie in der Vergangenheit, war noch immer im Gange. Ein Völkerstamm war mittels Schwefelsäure ausgerottet worden – soso.
    Hochwasser bedrohte Florenz. Lawinenunglück in den Alpen. Das Finale im Tenniscup. Fotos. Bilder. Auf allen Seiten fand ich alle wieder, keine Spur älter und keine Spur klüger als vor zwanzig Jahren: Leute, die ebenfalls von einem Apotheker mit Tabletten und Mitteln versorgt wurden, so daß ich

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