Der Mann von Nebenan
…«
Klang vielversprechend. Kate nahm drei Pillen aus der Packung und spülte sie mit einem Schluck Baldriansaft hinunter. Das sollte einen Elefanten zum Einschlafen bringen. Sie rollte sich auf ihrem Sessel zusammen, starrte in die Dunkelheit und wartete, daß die Wirkung einsetzte.
Wieder begann das lästige Karussell in ihrem Kopf zu kreisen. Gegen ihren Willen kehrten ihre Gedanken immer wieder an denselben Punkt zurück.
Ramona.
Jung, natürlich. Viel jünger als sie. Wie hatte er sie kennengelernt? Sicher eins von den Hühnchen, die überall auf den Redaktionsfluren seines Senders rumflatterten. Es wimmelte dort von Praktikantinnen, Aufnahmeleiterinnen, Scriptgirls, Casting-Miezen – ein Paradies für Machos und Aufreißer. War Bernd so einer? Und wenn ja, warum trauerte sie ihm dann nach? Trauerte sie überhaupt Bernd nach oder nur dem Zustand des Verheiratetseins, des Wissens-wohin-man-gehört?
Wie wenig sie über ihren Ex-Mann wußte, und wie wenig über ihre eigenen Gefühle, dachte Kate erstaunt. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, Bernd nach Einzelheiten zu fragen. Erst kurz vor dem Scheidungstermin hatte sie begriffen, daß er nicht in eine eigene Wohnung gezogen war, sondern zu seiner neuen Freundin.
Als sie daran dachte, fühlte sie die gleiche Mischung aus Wut, Verzweiflung und Scham, die sie früher nach einem verlorenen Wettkampf in sich gefühlt hatte. Dieser Verdacht, das Rennen sei nicht fair gewesen, weil man ihr eine gedopte Gegnerin vor die Nase gesetzt hatte.
Aber wie damals war sie entschlossen, keine Schwäche zu zeigen. Sie war Kate, sie war stark, und sie würde sich von einer lächerlichen Scheidung nicht aus der Fassung bringen lassen!
Ein angenehmes Schwindelgefühl bemächtigte sich ihrer, hüllte sie ein wie eine weiche Decke und ließ die quälenden Gedanken in den Hintergrund treten.
Sie stand auf und ging langsam, gegen das leichte Schwanken ankämpfend, die Treppe hoch. Wie jede Nacht schlich sie zu Samuel ins Zimmer, um zu kontrollieren, ob er zugedeckt war. Er lag auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, die zerzausten Botticelli-Boh-Marley-Locken im Gesicht. Er sah aus wie sein Vater. Wenn er die Augen geschlossen hatte, war er Bernd so ähnlich, daß es weh tat.
Bis heute hatte Kate ein schlechtes Gewissen, weil sie das Kind eigentlich nicht gewollt hatte. Weil sie sich eingebildet hatte, unbedingt weiterlaufen zu müssen. Dabei war ihr Läuferschicksal längst besiegelt gewesen seit jenem Nachmittag im August. Seit damals wußte sie, daß ihr Herz über ihren Kopf gesiegt hatte, die Angst über die Vernunft.
Sie kauert im Startblock, reglos. Ein Raubtier. Die Atmung flach, die Augen halb geschlossen. Startschuß und Angriff sind eines. Wäre ihr Opfer ein Tier, sein Genick wäre schon jetzt gebrochen. Dreißig Schritte bis zum ersten Hindernis. Sie schluckt es, kaum unterbricht der Sprung ihren Schrittrhythmus. Wie eine Schere klappen ihre Beine bei jeder Hürde auseinander und zusammen. Kurz vor der achten Hürde der gefürchtete Moment. Die Schritte werden kürzer, der Rhythmus wird schneller. Jetzt bloß nicht denken. Oder zählen. Entweder es geht automatisch, oder es geht gar nicht. Der Kopf ist der größte Feind des Sprinters. Neun, zehn. Die letzte Hürde. Vierzig Meter Auslauf. Ende.
Gegen ihren Willen, fast ohne daß sie es bemerkte, stieg ein Schluchzen in Kate hoch. Wie ein schutzbedürftiges Tier kroch sie zu ihrem Sohn ins Bett, drängte sich an ihn und suchte die Wärme seines Körpers. Samuel schmatzte, murmelte etwas Unverständliches und warf ihr die Arme um den Hals. Ineinander verschlungen lagen sie da, und Sekunden später fiel Kate in einen bleiernen chemischen Schlaf.
»Super, wir haben verpennt!« ertönte Samuels Stimme, unscharf nahm Kate wahr, daß eine Armbanduhr vor ihrem Gesicht baumelte. Sie schoß hoch, das Uhrgehäuse knallte schmerzhaft gegen ihre Schläfe.
»Scheiße, verdammte!« schimpfte sie und versuchte, irgendwas zu begreifen. Ganz langsam kehrte ihr Bewußtsein zurück.
Sie starrte auf das Zifferblatt – kurz nach zehn, die Schule hatte vor zwei Stunden angefangen.
»Wieso hast du hier geschlafen?«
Samuel sandte ihr einen fragenden blauen Blick.
»Ich dachte, du fühlst dich einsam.«
Bob Marley, zwölfjährig, klein und sommersprossig, lächelte nachsichtig.
»Ich muß dich in der Schule entschuldigen«, brummte Kate und sprang aus dem Bett. Sie lief die Treppe hinunter zum
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