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Der Mann von Nebenan

Der Mann von Nebenan

Titel: Der Mann von Nebenan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelie Fried
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ihn heraus, trocknete und prüfte ihn. Der vertraute Geruch von Leinöl erfüllte den Raum, und Kate hatte allmählich das Gefühl, zu ihrer früheren Kunstfertigkeit zurückgefunden zu haben.
    Das Holz hatte einen leicht honigfarbenen Ton angenommen, der die Maserung stärker heraustreten ließ. Kate drehte das Rohr in den Händen, untersuchte jeden Quadratzentimeter auf Risse oder Unebenheiten. Nein, es sah gut aus, alles in Ordnung. Sie beschloß, aufs Beizen zu verzichten. Ihr Kunde, ein russischer Flötist, hatte ihr freie Hand gelassen.
    »Sie werden es machen rrrichtig«, hatte er gesagt.
    »Sie haben bisher immer gemacht rrrichtig.«
    Sie schnitt das Labium ins Holz, den Windkanal, durch den später der Atem in die Flöte geblasen würde. Mit hauchdünnem Sandpapier schliff sie die Kanten, entfernte den Holzstaub mit einem Pinsel. Jede noch so kleine Faser, jeder winzige Vorsprung würde den Klang beeinträchtigen.
    Das Bohren der Löcher trieb ihr den Schweiß ins Gesicht. Es kam auf Nuancen an; ein zu groß geratenes Loch würde ihre ganze Arbeit ruinieren. Mit Reibahlen schliff sie die leicht konisch zulaufenden Ränder. Der genaue Winkel war eines ihrer Geheimnisse, das die besondere Klangqualität ihrer Instrumente mitbestimmte.
    Kates Gedanken kamen zur Ruhe, ihr Kopf leerte sich. Sie entfernte sich aus der Welt, oder vielleicht war es die Welt, die sich von ihr entfernte.
    Ihr Lehrmeister, der allzeit grantige Johannser, hatte ihr die Augen geöffnet über das Geheimnis des Zufalls: Es gibt ihn nicht. Nichts ist zufällig. So, wie jedes noch so winzige Staubkorn im Inneren einer Flöte den Klang beeinflußt, beeinflußt jedes noch so leichte Schlagen eines Schmetterlingsflügels den Gang der Dinge. Die Welt ist ein hochvernetzter Organismus, der bestimmt wird von Ursache und Wirkung. Jede Wirkung wird erneut zur Ursache und ruft weitere Wirkungen hervor.
    Diese Einsicht hatte Kate gleichzeitig beruhigt und alarmiert. Einerseits fühlte sie sich seither weniger verloren, vielmehr zugehörig zu diesem großen Ganzen. Andererseits lastete das Gefühl der Verantwortung auf ihr. Was immer sie tat, hatte eine Auswirkung. Also galt es, alles so sorgfältig und überlegt wie möglich zu tun.
    Aus einem Stück Zedernholz entstand der Block. Millimeter für Millimeter schabte Kate ihn ab, paßte ihn ein, klopfte ihn mit dem Griff des Stecheisens vorsichtig wieder heraus und bearbeitete ihn weiter.
    Es dauerte drei volle Tage, bis sie zufrieden war.
    Zuletzt brachte sie den Einschnitt am Flötenkopf an und schliff die feinen Rillen für die Gewindewicklung. Dann schlug sie die Flöte in ein Tuch ein, um sie aufzubewahren, bis der richtige Moment fürs Stimmen gekommen wäre.

SECHS
     
    D er Sonntag der Essenseinladung. Kate hatte die ganze Woche überlegt, wie sie sich am besten drücken könnte, aber ihr war nichts eingefallen. Jede Entschuldigung hätte nur einen Aufschub zur Folge gehabt, also hatte sie beschlossen, es hinter sich zu bringen. Dieses eine Mal würde sie hingehen. Danach wollte sie sich ihren Nachbarn freundlich, aber bestimmt vom Leib halten.
    Mattuschek stand schon in der Tür.
    »Das wurde aber auch Zeit, daß Sie uns endlich mal beehren!« begrüßte er sie und fuhr, zu Samuel gewandt, fort: »Wir zwei kennen uns ja schon, nicht wahr?«
    »Ach ja, woher eigentlich?« fragte Kate.
    »Wir sind uns im Wald begegnet.« Mattuschek lachte. »War eine ziemlich peinliche Situation!«
    Kate sah vom einen zum anderen. Was sollte das denn heißen?
    »Willi hatte eine Reifenpanne«, erklärte Samuel, »ich hab’ ihm beim Flicken geholfen.«
    »Willi?«
    »Ich habe Samuel das «Du» angeboten. Ist unter Radfahrern so üblich.«
    Kate wurde unbehaglich zumute. Es lag in der Luft, daß ihr leutseliger Nachbar auch sie zum Duzen auffordern würde; sie war entschlossen, ihm keine Gelegenheit zu geben.
    »Sie fahren also auch Rad? Das wußte ich gar nicht«, setzte sie die Konversation fort.
    »Sie wissen vieles nicht, liebe Nachbarin.« Er lächelte.
    »Folgen Sie mir bitte unauffällig!«
    Er lotste Kate und Samuel ins Wohnzimmer, das ziemlich genau Kates Erwartungen entsprach.
    Schrankwand in Eiche, Sitzgarnitur mit altrosa Samt, Kissen aus Makramee, beiger Teppichboden, gemusterte Vorhänge über weißen Stores. Auf dem Fensterbrett Kakteengewächse in farbig glasierten Übertöpfen, an der Wand Landschaften und Hinterglasmalerei. Ein Kruzifix. Ein Aquarium. Der ganze Raum blitzsauber und penibel

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