Der Mann von Nebenan
»Man war ja schließlich auch mal jung! Ist gar nicht mal so lange her!«
Plötzlich empfand Kate seinen Blick als ausgesprochen lüstern. Sie stellte sich vor, wie er sich an ihrem Anblick erregte und dann über die arme Gudrun herfiel.
»Laß doch«, murmelte Gudrun jetzt, »vielleicht ist Frau Moor das unangenehm.«
Damit hatte sie verdammt recht. Kate entschuldigte sich; sie wollte für einen Moment flüchten.
»Warten Sie, ich zeig Ihnen, wo’s langgeht«, bot Mattuschek an und sprang auf.
»Nicht nötig«, wehrte Kate ab, aber er war schon aus der Tür.
Vor dem Gästeklo bremste er abrupt und drehte sich um, so daß Kate frontal gegen ihn prallte.
»Oh, Verzeihung!« stieß sie hervor, obwohl sie das Gefühl hatte, er habe die Kollision absichtlich herbeigeführt.
Als wolle er sie auffangen, packte er sie an den Hüften.
»Hoppla«, sagte er jovial, aber anstatt sie loszulassen, zog er sie an sich.
»Nehmen Sie Ihre Hände weg!« zischte Kate.
Er folgte ihrer Aufforderung, wobei er scheinbar unabsichtlich ihre Brüste streifte.
»Nun schauen Sie nicht so finster, ich tu Ihnen doch nichts.« Er lachte.
Kate schloß die Klotür mit einem Knall, drehte den Schlüssel um und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand.
Sie ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen und benetzte ihre Stirn. Sie versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Nach einer Weile machte sie sich auf den Rückweg, entschlossen, ihm die Meinung zu sagen.
Dazu kam es nicht. Im Eßzimmer blätterten Samuel und Mattuschek einträchtig in einem Bildband über die Tour de France, während Gudrun abräumte und gleichzeitig Kaffeegeschirr aufdeckte. Es erschien Kate völlig unmöglich, jetzt eine Szene zu machen. Mattuschek würde den Unschuldigen mimen, Gudrun würde vor Scham in den Boden versinken, Samuel würde einen Schock bekommen.
Schweigend setzte Kate sich wieder an den Tisch und beschloß, sofort nach dem Kaffee aufzubrechen.
Die Unterhaltung drehte sich um Techniken der Beschleunigung, Übersetzungsprobleme am Berg und den Einfluß von Regen auf den Rennverlauf.
Irgendwann sagte Mattuschek unvermittelt: »Was ich Sie schon lange mal fragen wollte, Kate, was ist damals eigentlich genau passiert?«
Kate verstand nicht. »Was meinen Sie?«
»Ich meine 1984. Los Angeles.«
»Darüber möchte ich nicht sprechen«, sagte Kate schroff. Sie stand auf. »Samuel, wir gehen jetzt.«
Samuel sah seine Mutter überrascht an. »Ich will aber noch nicht gehen.«
»Du kommst jetzt mit!« Ihre Stimme wurde schrill.
Sie fühlte sich hintergangen. Die ganze Zeit hatten Mattuschek und seine Frau den Eindruck erweckt, sie wüßten nicht, wer Kate war. Jetzt fühlte sie sich bloßgestellt und ausgeliefert, als hätte jemand in ihrem Tagebuch gelesen.
»Schade, ich wollte Ihnen eigentlich noch was zeigen«, sagte Mattuschek und sah sie auf eine Weise an, die in Kate den Wunsch zu gehen, übermächtig werden ließ.
»Ein andermal«, preßte sie hervor. »Danke für die Einladung.«
Sie fühlte eine Beklemmung im Brustraum, die sie am Atmen zu hindern drohte. Tak-tarak, tak-tarak-tak. Schnell und unregelmäßig spürte sie ihren Herzschlag. Sie packte Samuel und zog ihn mit sich, getrieben von einem Gefühl der Panik, das ihr selbst lächerlich erschien.
Zurück im Haus ließ Kate sich aufs Sofa fallen und schloß die Augen. Sie fühlte sich, als wäre sie einer großen Gefahr entronnen.
»Bitte, geh spielen, Samuel«, bat sie mit erstickter Stimme, »laß mich ein bißchen allein.«
Samuel nickte stumm und verließ das Zimmer.
Was war damals eigentlich genau passiert? Wie oft sie das gefragt worden war. Wie oft sie sich diese Frage selbst gestellt hatte. Sie haßte diese Frage. Und noch mehr haßte sie die Antwort.
8. August 1984. Der Tag, an dem sie endgültig zum Weltstar werden wird. Schon ihr Qualifikationslauf war eine Sensation. Und heute wird sie der Welt beweisen, daß sie die Beste ist.
Die Beste sein. Das ist es, worauf es ankommt im Leben. Was ihre Eltern ihr unermüdlich eingebleut haben. Was sie sich tagtäglich beim Training vorsagt. Nichts anderes zählt für sie, seit Jahren.
Sie startet auf Bahn drei. Links von ihr die Jamaikanerin Sandra, daneben Debbie aus Australien. Rechts von ihr die Schwedin Ann-Louise, ihre schärfste Rivalin seit der WM im vergangenen Jahr, sowie Judy, Cristina und Tuija, alles Läuferinnen, die sie bisher mühelos hinter sich gelassen hat.
Die Marokkanerin ist neu. Grazil, das
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