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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Schreien. Er schrie aber nicht, er schluckte die Telefonate mit seiner Mutter herunter wie Steine.
     

Der Fund im Moor
    Paul hatte gerade wieder zu graben begonnen, als Nullkück auf ihn zurannte und wild mit den Armen gestikulierte.
    »Paul, Paul!«, schrie er. »Komm, komm!« Dann zog ihn Nullkück auf die andere Seite des Gartens. Karl folgte. Sein Bruder Ernst stand da und starrte in die Tiefe.
    Sie waren mit den Abzugsgrippen im Laufe des Tages schon fast bis zum großen Moorgraben vorgedrungen, der das Grundstück umgab und in den alle neuen Abzugsgräben münden sollten. An dieser Stelle, kurz vor der Mündung, blickte Paul nun hinunter in den Sumpf und auf den Kopf eines Menschen.
    Nullkück hatte vor lauter Aufregung den halben Teufelsmoordamm alarmiert, und ungefähr eine Stunde später hob man den Fund unter größten Anstrengungen aus dem Moor und legte ihn auf die Wiese. Während Nullkück ihn mit dem Gartenschlauch abspritzte, standen die Brünings sowie die Männer vom Damm hinter dem Wasserstrahl und sahen zu, wie sich Schlamm, Torf und Bleichmoose aus den Ohren, den Nasenflügeln und Augenhöhlen allmählich lösten und herausliefen.
    Semken war auch erschienen, ebenso Malte Jahn, der herbeigeeilt war und aussah wie sein Großvater: hager, mit langem Hals, spärlichem Haar, nur der Stock fehlte. Anwesend auch Bauer Renken und Bauer Gerken, der schon 94 war und beim Ausheben des Fundes Anweisungen gegeben hatte.
    Als Letzter kam Herr Lundt, der Bremer NASA-Physiker, der vor langer Zeit auf dem Teufelsmoordamm ein Zimmer gemietet hatte, weil er im Rahmen der Apollo-Mission Ruhe brauchte für die Oberflächenbeschichtung einer neuen Weltraumfähre beim Übergang vom All in die Erdatmosphäre, angeblich stand er damals kurz vor der Erfindung neuartiger Hitzeschutzkacheln. Er war ganz grau und in Worpswede alt geworden. Er schaute kurz auf den Fund, dann in die Moorspalten und lief weg.
    Nullkück spritzte noch einmal von oben bis unten alles ab und beendete seine Arbeit mit dem Gartenschlauch.
    Der alte Gerken zog seine Mütze und war der Erste, der das Wort ergriff. Es war, als würde man durch das Moor fallen in eine andere Zeit.
    Malte Jahn entfernte sich zügig, seine Augen brannten.
    Paul setzte sich auf einen Schlammhaufen. Er war bleich, ihm wurde übel.
     

Ohlrogge kann immer noch nicht loslassen und trinkt Kaffee von 1933
    Allmählich begannen auch die Kühe unruhig zu werden. Ohlrogge hatte die Wiese im Schlafanzug mehrmals abgeschritten und ungewöhnlich oft umrundet, sodass die Wellbrock-Kühe schon ganz tüdelig aussahen. Zumindest starrten sie ihn nicht mehr graskauend desinteressiert an, sondern einige stellten ihre Kauvorgänge ein und warfen sich untereinander Blicke zu.
    »KÜNSTLER DES JAHRHUNDERTS«, schimpfte er vor sich hin. »Das kann nicht wahr sein! NICHT DER! NICHT KÜCK, NICHT DIESES SPEZIALPASTEN-SCHWEIN, DIESER BOCKFLINTENFASCHIST!?«, immerhin steigerte er sich in seinen Wiederholungen.
    »HOL BUTTERKUCHEN! - das klingt doch wie HEIL HITLER!«
    Warum war ihm das früher nie aufgefallen?, dachte Ohlrogge und erinnerte sich an die seltsamen Szenen im Kückgarten mit dem reservierten Stuhl und diesen gespenstischen Rufen des Vaters, wenn der Morgen graute und alle schliefen.
    HOL BUTTERKUCHEN!
    Ohlrogge hatte keine Ahnung, warum es ausgerechnet wie HEIL HITLER klang. Wahrscheinlich war es die Aussprache, der Ton, den Ohlrogge noch immer im Ohr hatte von damals: HOL BUTTERKUCHEN! - zackig, wie aus der Pistole geschossen, mit fast mechanischer Erregung, so als sei der Butterkuchen der Führer.
    »Ich mach dich fertig!«, schrie er plötzlich die Kühe an. »Da gibt's ja auch die Sache mit der Kriminalpolizei!«
    Ja, Marie fiel ihm wieder ein, um deren Skulptur der alte Kück im Morgengrauen immer herumgelaufen war. Marie, die in der Familie Kück immer zugegen gewesen war wie ein Gespenst. Wie eine Untote. Und wusste nicht dieser Jahn, dieser Nachbar ... Da war doch was? Jahn, Marie, Kriminalpolizei ...
    Ohlrogge krümmte sich.
    »Ich muss aufpassen«, stöhnte er vor den Kühen. »Ihr habt vier Mägen ... aber ich ... ich habe nur einen.«
    War es vielleicht wieder Zeit für eine Therapiestunde? Gab es denn so etwas wie Vergangenheitssucht?
     
     
    Frühsommer 1967, noch vor der Trennung: Mit Jahn auf dem Moordamm (Fragen zu Maries Tod)
     
    Der Nachbar Emil Jahn ist ein hagerer Mann mit langem Hals und schütterem Haar. Die ganze Familie Kück flucht über ihn, weil sein

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