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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Schild »Der Bildhauer« unverfroren und geschäftsschädigend sei. 30 Jahre schon würden die Kunden in die falsche Einfahrt einbiegen.
    »Warten Sie!«, ruft er, als er Ohlrogge vorbeigehen sieht. »Ich möchte Ihnen endlich einmal mitteilen, es ist nicht nur das Schild!«, dabei hört man bis zu den Kücks, wie der Stock, an dem er geht, auf den Teufelsmoordamm schlägt. »Es gibt auch einen anderen Grund, warum die Kücks so schlecht über mich sprechen.«
    »So, so«, sagt Ohlrogge und schaut Jahn an, der ihm körperlich unangenehm ist, außerdem hat er keine Ahnung, was der Mann von ihm will.
    »Haben Sie nicht auch schon mal gedacht, dass Hilde gar nicht die Mutter von Nullkück sein kann?«, fragt Jahn und streckt seinen Hals in Richtung der Kück'schen Einfahrt.
    »Alles lange her«, antwortet Ohlrogge.
    »Ja, aber Marie ist nicht tot gemeldet worden.« Er macht eine kleine Pause, in der er wieder seinen Hals reckt, so als suche er Marie rechts und links in den Wiesen. »Ich habe immer gesagt, was ich wusste. Es kam ein Auto von der Worpsweder Polizei, Kriminalpolizisten, die haben nach ihr gefragt. Das waren keine von der Gestapo.«
    Ohlrogge will gehen, er weiß ja, dass die Jahns und die Kücks sich hassen, was soll er sich da einmischen.
    »Hier, die schenke ich Ihnen! Das ist eine Dienstmarke, die ist echt, Gemeinde-Kriminalpolizei ist da eingeprägt.« Jahn drückt sie ihm in die Hand. »Die Dienstmarken von der Gestapo waren quadratisch aus Silber, diese aber ist rund aus Kupfer. Die können Sie mal Ihrer Freundin zeigen, die habe ich hinter Kücks Schuppen gefunden, die brannten da ja heimlich Schnaps. Außerdem kamen da nachts Stimmen aus dem Schuppen. Ich habe Stimmen gehört!«
    Ohlrogge wird es unheimlich, er will sich verabschieden.
    »Wissen Sie, meine Frau war immer misstrauisch«, berichtet Jahn weiter. »Marie hatte ihr einmal erzählt, dass sie bei Mackensen gehen musste, weil sie nicht mit ihm ... Na, Sie wissen schon. Mit Kommunismus hatte das nicht so viel zu tun!«
    »Hm, vielleicht hat sie ja doch mit ihm ...Was wissen wir von den alten Herzen, Herr Nachbar, wenn wir nicht mal unsere eigenen ergründen können?«, sagt Ohlrogge und geht schnell die Einfahrt zu den Kücks hinunter. Er denkt noch, was für ein windiger Mann und wie irrsinnig, dass es das überhaupt gab: eine Kriminalpolizei im Nationalsozialismus!
    Im Garten beim Kaffeetrinken fragt er: »Herr Kück« - er siezt den Vater von Johanna - »Herr Kück, was ist eigentlich mit dem Auto, das Sie hier gefunden haben? Ist das von den englischen Truppen, der Gestapo oder der Kriminalpolizei? Kann man wahrscheinlich schwer unterscheiden. Und haben Sie etwa das ganze Auto auseinandergebaut?« Er weiß ja, ein Teil davon, die Achse, dient als Stange im großen Eichenschrank.
    Der Vater lässt sein Stück Butterkuchen fallen und geht ins Atelier. Die Mutter nimmt ihr Tablett und läuft in die Küche. Ohlrogge will Johanna noch das runde Kupferding von der Kriminalpolizei zeigen, doch sie steht auf und fährt ohne ein Wort nach Bremen zur Jacobs-Tochter, dann in die »Lila Eule«, in ihren Lieblingsclub.
     
     
    Herbst 1972, vier Jahre nach der Trennung: Ohlrogge bei einem Fachmann für Vergangenheit (Dr. Anton Rudolph)
     
    In der Zeitung überblättert er die Watergate-Affäre und liest über einen Mann in der neu gegründeten Uni Bremen, der sich professionell genau mit jener Vergangenheit auseinandersetzt, die auch Ohlrogge für sein Schicksal mehr und mehr verantwortlich macht.
    Er sucht ihn am Institut für Geschichtswissenschaft in seinem Dienstzimmer auf, vollgestopft mit Zeitungen, die so uralt sind und stauben, dass Ohlrogge sich schon beim Eintreten an den Armen kratzt.
    »Sie kennen ja die Hamme-Nachrichten, wenn Sie aus der Gegend kommen«, sagt Anton Rudolph zur Begrüßung. »Ich habe hier alle Ausgaben von 1933 bis 1945. Wissen Sie, wie viele das sind?«
    Ohlrogge sieht ihn gar nicht. Er hört nur die Stimme hinter den Zeitungstürmen, die sich unten fast pulverartig auflösen und verrotten und oben bis unter die Decke des Dienstzimmers wachsen. Seltsam, denkt Ohlrogge, die Uni ist ganz neu, auf den Fluren riecht es nach Fensterkitt und frischen Bodenbelägen, nur hier schaut es aus, als stünden die alten Papiertürme schon seit langer Zeit. Hinter den Türmen hört er wieder die Stimme.
    »Erst blättern Sie eine Woche durch und noch eine und es wird ein Monat und bald ein Jahr. Dann fangen Sie im Januar mit einem

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