Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
neuen Jahr an und Ihre Hände sind schwarz geworden. Man kann es auch nicht mehr abwaschen, schauen Sie mal!«
Ohlrogge sieht zuerst die Innenflächen der Hände, die Anton Rudolph hervorstreckt, sie sind wirklich dunkel.
»Haben Sie 1939 geschafft, müssen Sie auch 1940 schaffen und danach 41, 42, 43 ... Manchmal habe ich zwischen all den Jahren Mittagsschlaf gemacht.«
Ohlrogge spürt wieder den pulverartigen Zeitstaub und kratzt sich im Gesicht, während von Rudolph nun alles zu sehen ist: ein Mann von mittlerer Statur in einem zu großen Jackett. Die Haare angegraut, aber lockig, lang und ein bisschen wie bei ihm, denkt Ohlrogge. Auch trägt Rudolph Turnschuhe und gießt jetzt Wasser in eine völlig verkrustete Kaffeemaschine.
»Ich komme wegen Kück, Worpswede«, sagt Ohlrogge und beobachtet den Historiker.
»Kück ... Kück ... da sind so viele Kücks ...«
»Paul Kück!«, erklärt Ohlrogge. »Der Bildhauer, ich spreche vom Rodin des Nordens!«
»Kück ... ein Bildhauer namens Kück ...«, überlegt Rudolph weiter und Ohlrogge ist schon leicht resigniert, er hat eigentlich erwartet, dass der Historiker bei dem Namen Paul Kück quasi den Wasserbehälter fallen lässt.
»Ja, vielleicht ...Warten Sie mal ...Vielleicht war da was...«, meint Rudolph sich zu erinnern. Er stellt die Kaffee-HAG-Dose mit dem roten Rettungsring ab und greift hinter den Zeitungstürmen nach einem Ordner mit »Diverse«.
Ohlrogge hält seine Nase in die Nähe der dampfenden Kaffeemaschine. Der Geruch erinnert ihn an alles: den Garten, die Nachmittage, die Tafel mit Butterkuchen. Genau diesen Geruch hatte auch der Kaffee von Greta Kück, egal, ob es HAG war oder später Jacobs, es lag wohl an ihrer alten Maschine.
»Na, also!«, sagt Rudolph, heftet ein Blatt aus dem Ordner und überreicht es seinem Besucher. »Wissen Sie, was die Nordische Gesellschaft war? Die Liste ist vom 3. Oktober 1941. Lesen Sie!«
Ohlrogge sieht auf ein in Reichsschrift verfasstes Papier, vergilbt. Oben steht:
Mitglieder / Ratsmänner der Nordischen Gesellschaft
Er geht die Liste durch mit Gauleitern, Reichsleitern, Stabchefs etc., er will gerade fragen, was er damit soll, als Ohlrogge unten diesen Namen sieht:
Paul Kück / Ratsmann für Worpswede und Osterholz
Sein Herz rast. Paul Kück zusammen mit NSDAP, SS, SA und dem Deutschen Kulturkampfbund in einer Gesellschaft!
»Kann ich das behalten, Herr Dr. Rudolph?«, fragt Ohlrogge, er hält die Liste wie eine Trophäe in der Hand.
Rudolph ruft seinen Assistenten, der im Nebenzimmer sitzt, in dem die Vergangenheit nur in Form einer Gesamtausgabe von Karl Marx vorhanden ist, sonst nichts, nur der frische Fensterkitt, das noch stark riechende Linoleum des Fußbodens und Karl Marx.
»Mach eine Kopie von dieser Liste«, weist Rudolph seinen Assistenten an, dann überreicht er Ohlrogge verschiedene Schriftstücke, »spezielle Worpswede-Broschüren«, wie Rudolph erklärt, kleinere, größere, die allesamt aussehen wie Akten.
Eine, die größte, handelt von Fritz Mackensen, dem Gründer der Künstlerkolonie. »Moorlandschaften und Hitler-Porträts. Reinrassige, erbgesunde Bauernfamilien im Auftrag der Reichskulturkammer«, überfliegt Ohlrogge und blättert in der nächsten Spezialbroschüre, in der es um Otto Modersohn geht, der zwar einen romantischen roten Bart gehabt haben soll, nebenbei aber Bilder an Goebbels veräußerte.
»Wussten Sie«, fragt Rudolph, »dass Mackensen eine geistig behinderte Tochter hatte?«
Ohlrogge schüttelt den Kopf. Er blättert schon in der Broschüre, die sich mit der in Lübeck gegründeten »Nordischen Gesellschaft« befasst, die ab 1933 ein Kampfbund für den »Nordischen Gedanken« war, allerdings hat Ohlrogge keine Ahnung, was der »Nordische Gedanke« sein soll, mit NG abgekürzt.
»Eine behinderte Tochter haben und dann erbgesunde Familien malen!«, sagt Rudolph aufgebracht, dabei hält er seinem Gast noch einmal die Mackensen-Broschüre hin, die wirklich am umfangreichsten ist.
Ohlrogge denkt an den behinderten Nullkück, den er in den Jahren, als er bei den Kücks lebte, wie eine zusätzliche Bürde empfand: erst der Vater, der Wachposten von Johanna, seine gespenstischen Rituale im Garten, die keiner im Hause bemerken wollte; dann die ewig backende Mutter, die, wenn sie nicht backte, mit Wiener Kalk einen angeblichen Original-Kochtopf von Rilke scheuerte wie den Heiligen Gral und dazu Herbstgedichte rezitierte; und dann obendrein noch der
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