Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
debile Nullkück, der vom ganzen Gerede über seine Mutter Hilde keine Ahnung hatte und jeden Tag Trecker fuhr und dabei seltsame Briefe an die Bäuerinnen verteilte. Einmal hatte Nullkück beobachtet, wie sie es in Johannas Zimmer trieben: das Gesicht an das Fenster gepresst, Vorhänge gab es nicht, bis Ohlrogge mit einem Satz aus dem Bett sprang, schnell das Fenster öffnete und Nullkück mit der flachen Hand mehrmals ins Gesicht schlug, gewissermaßen stellvertretend für alle Kücks gleich mit. Nullkück blutete drei Tage die Nase und er trat Ohlrogge nie wieder unter die Augen.
»Alexandra, sie hieß Alexandra und wurde von Mackensen in eine Anstalt nach Bremen abgeschoben«, erklärt Rudolph, der sich in den Kolonievater geradezu festgebissen hat.
»Das ist ja ein Ding. Haben Sie auch noch etwas zu Kück?«, fragt Ohlrogge.
»Nein«, antwortet Rudolph, reicht aber eine weitere Broschüre, diesmal die Hoetger-Broschüre.
»Kennen Sie das Mackensen-Bild Die Frau am Moorgraben«?, fragt Ohlrogge, ihm fällt die Begegnung mit dem Nachbarn Emil Jahn wieder ein, dessen Marie-Gerede und die Kälte, die er am Tisch bei den Kücks spürte, als er fragte, was denn mit diesem Auto gewesen sei, von dem die Vorderachse im Eichenschrank stammte.
»Interessant, dass Sie das ansprechen«, sagt Rudolph. »Mackensen forderte dieses Bild zurück, nachdem er hörte, es habe ein Kommunist aus Berlin gekauft. Immerhin, konsequent war er ja.«
»Die Frau am Moorgraben war eine Kück und sie war angeblich auch Kommunistin! Sie hieß Marie!«, ruft Ohlrogge, halb begeistert, halb enttäuscht, dass Rudolph alles nur durch die Mackensen-Brille sieht. »Bleiben wir doch einen Moment bei dieser Marie Kück«, bittet er. »Hat Mackensen sie mal irgendwo erwähnt?«
»Weiß ich nicht«, sagt Rudolph. »Kann mir kaum vorstellen, dass die Frau am Moorgraben eine von Ihren Kücks war.«
»Sie soll sogar ein Kind mit ihm gehabt haben! Nullkück, es hieß Nullkück!«, bringt Ohlrogge ganz beherzt hervor, er hofft jetzt, Rudolph für seine Mackensen-Marie-Geschichte zu gewinnen.
Rudolph lacht kurz auf, dann schüttelt er den Kopf. »Meinen Sie, mir wäre da etwas verborgen geblieben? Wollen Sie mir, dem Mackensen-Experten, ein Kind andrehen, ausgerechnet von einer Kommunistin, mitten in die abgeschlossene Dokumentation hinein?«
»Nein, nein«, beruhigt Ohlrogge den Historiker und streicht ihm mit der Hand kurz, aber besänftigend über den Arm. »Sie meinen also, es gibt Ihren Nachforschungen zufolge gar keinen Verweis auf die familiäre Verbindung Mackensen-Kück?« Er denkt an den Rilketopf, an die bedeutenden Skulpturen im Garten von Paul Kück, an die Jacobs-Tochter, an die Geliebte von Gottfried Benn, die auch ständig im Garten herumgesessen hatte, es gab ja einen Hang in dieser Familie, sich mit Bedeutung zu umgeben. Vermutlich hatten sich die Kücks irgendwann so in das Mackensen-Bild hineingedeutet, dass am Ende sogar ein Kind dabei herausgekommen war, ein erfundenes, ein Kunstkind.
»Da fragt man sich natürlich«, versucht Ohlrogge noch einmal eine Spur aufzunehmen, »warum Mackensen diese Marie Kück verraten haben soll und von der Gestapo abholen ließ, wenn er sie Ihrer Meinung nach gar nicht kannte? Zumindest Ihren Nachforschungen zufolge, Herr Dr. Rudolph, auf keinen Fall schwängerte? Er war ja außerdem auch schon 77, obwohl, bei Kolonievätern weiß man nie. Eines allerdings können Sie nicht wissen und ich weiß es von Jahn, dem Nachbarn: Mackensen machte Marie tatsächlich ein sexuelles Angebot, das sie ablehnte. Danach flog sie raus. Es ging da wohl nicht um den Kommunismus. Sie lehnte nur das sexuelle Angebot ab. Aber da kommt ja nicht gleich die Gestapo, oder? Marie arbeitete bei Mackensen als Einschenkfrau, Ausschankfrau, wie nannte man denn das, Schankfrau?«
Rudolph hört gar nicht mehr zu und tritt etwas verlangsamt in den Flur, um Ausschau nach seinem Assistenten zu halten. Er wirkt, sobald er nicht die Rede fuhrt, wie ein Schiff, das die volle Fahrt unterbrechen muss.
»Ich wollte im Prinzip auch nur sagen, dass man einmal nach dieser Marie gefragt hat, und es waren eher Kriminalpolizisten, nicht Gestapo-Leute! Das weiß ich auch von Jahn.«
Rudolph reißt mit einem Ruck die Kanne aus der Kaffeemaschine und stellt seinem Gast einen bis zum Rand gefüllten Pott hin, ohne Milch.
»Vielen Dank. Schauen Sie mal«, sagt Ohlrogge und holt die Polizeimarke aus der Tasche, die ihm Jahn auf dem Moordamm
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