Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
gegeben hat. »Was also, wenn es eine Kriminalpolizei gab, die Marie Kück suchte, nachdem sie angeblich abgeholt worden war?« Er hält Rudolph die runde Kupfermarke mit Dienstnummer hin. »Die wurde bei Paul Kück gefunden hinter der Scheune im Moor! Da kamen auch Stimmen raus!«, er ist richtig stolz auf seine detektivische Ader, allerdings ist das auch schon das Ende seiner Redezeit und der Marie-Geschichte.
    »Was glauben Sie? Kriminalpolizisten, SA, Gestapo, das war doch alles vermischt in den Dörfern!«, erklärt Rudolph. »Wenn Sie diesem Kück etwas anhaben wollen, dann halten Sie sich an meine Liste! Was wollen Sie mit diesem Stück Blech? Dieses ganze Gerede! Wenn ich jedem sexuellen Angebot historisch nachforschen würde, könnte ich meinen Beruf an den Nagel hängen! Und wissen Sie, wie viele Kücks es in Worpswede gab und wie viele Witwen? Man fragte ständig nach allen möglichen Frauen, mit denen die Behörden die Rente regeln mussten. Wann soll da überhaupt gesucht worden sein?«
    »April 1945«, sagt Ohlrogge leise.
    »Ich lach mich tot. Da standen schon die Engländer vor der Tür! Da hat überhaupt niemand mehr was gesucht. Das Einzige, was da in Worpswede händeringend gesucht wurde, waren reine Westen!«
    Rudolph ist nun wieder gut in Fahrt, und Ohlrogge erkennt, dass seine laienhaften Ermittlungen, genährt von diesem windigen Jahn mit seiner Dienstmarke, keinerlei Durchschlagskraft besitzen.
    Gut, denkt er, Dr. Rudolph hat recht, konzentrier dich lieber auf die Liste. »Was war noch mal der Nordische Gedanke?«, fragt er vorsichtig.
    »Wussten Sie, dass er im April 1945 an Plänen arbeitete für ein neuartiges Infanteriegewehr, mit dem die Deutschen um die Ecke schießen sollten?«, Rudolph war schon wieder bei seinem Lieblingsthema.
    »Sie wissen ja alles über Mackensen«, lobt Ohlrogge und fragt verwundert nach: »Die Worpsweder Künstler arbeiteten also an Gewehren? Mein Gott, und da habe ich mal gelebt!« Er trinkt einen kleinen Schluck vom Kaffee, der so bitter und dickflüssig schmeckt, als hätte er seit 1933 dahingeköchelt.
    »Wenn Sie meine Broschüren aufmerksam gelesen haben, dann können Sie nicht einmal mehr hinter dem Ortsrand leben«, prophezeit Rudolph und sieht nach seinem Assistenten, wo dieser mit der Liste bleibt.
    Was ist das für ein Horrorkaffee, denkt Ohlrogge, ein Mörderaroma, mein Magen! Er will aber höflich sein und nimmt einen weiteren Schluck. Von zu Hause hat er sich sicherheitshalber seinen Beutel Fencheltee mitgebracht. In dem Buch »Beginne zu leben - die Gegenwart als Schlüssel« hat er gelesen, dass Menschen, die sich nicht von der Vergangenheit lösen können, oft an chronischen Verstopfungen und sogar an Darmverschluss erkranken und viel bitteren Fencheltee trinken sollen wegen der ätherischen Öle im Fenchel, die den Verdauungsapparat geschmeidiger halten, genauso wie gedörrte Früchte.
    Der Assistent kommt und überreicht ihm die kopierte Liste. Ohlrogge steckt sie sofort in die Tasche.
    Es werde nicht mehr lange dauern, erklärt Anton Rudolph, dann würde er sein umfassendes »Lexikon der Norddeutschen Kunst zwischen 1933 und 1945« abgeschlossen haben. Die Gespräche mit einem Verleger seien fruchtbar gewesen, der Landtag habe Unterstützung zugesagt, ebenso die Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten, die Broschüren seien gewissermaßen nur Vorstufen des großen Lexikons, in dem Mackensen und Worpswede offiziell zu Fall gebracht würden.
    »Paul Kück doch wohl auch?«, fragt Ohlrogge nach.
    »Natürlich, alle«, beruhigt Rudolph seinen Gast und lächelt.
    Dann verabschieden sie sich. Kurz bevor Ohlrogge aus dem Dienstzimmer tritt, umarmt er Rudolph, flüchtig zwar, aber wie ein Mann, der gerührt darüber ist, dass er nach langer Zeit wieder ein Gespräch führen konnte.
    »Warum interessieren Sie sich eigentlich für das alles?«, fragt Rudolph noch.
    »Weil ich so bitter enttäuscht wurde«, antwortet Ohlrogge. »Weil die Kücks und Worpswede mein Leben zerstört haben.«
    Zu Hause hängt er die neue Liste mit der »Nordischen Gesellschaft« über sein Bett, neben die alte Liste mit den Schuldigen. Dann wartet er mit Vorfreude auf die Veröffentlichung des »Lexikon der Norddeutschen Kunst zwischen 1933 und 1945«, doch es erscheint nicht.
    Es sei noch unvollendet, sagt Anton Rudolph am Telefon, als sich Ohlrogge erneut verabreden will. Treffen könne er sich nicht, aber im nächsten Frühjahr komme das Werk endgültig und mit der

Weitere Kostenlose Bücher