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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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»ebay« vor, aber das war Paul zu kompliziert und zu gefährlich, wer wusste schon, welche Käufer dann in den Garten kämen.
    »Gib mal die Nordische Gesellschaft ein«, sagte er. »Nein, zuerst Dr. Anton Rudolph«, Paul wurde unruhig. Was hatte dieser Rudolph gesagt, mit Unterstützung aus Niedersachsen würde er hier alles umgraben lassen?
    Nullkück nahm die verknitterte Visitenkarte aus seiner Tasche und tippte.
    Was für seltsame Hände, bemerkte Paul. Die kleinen Finger waren ganz kurz, der Handrücken gefurcht.
    Nullkück spürte, dass ihm Paul auf die Finger sah, und tippte schneller.
    »Dr. Anton Rudolph - Universität Bremen.« Er drückte auf Enter.
    Einen Wikipedia-Eintrag gab es nicht, aber auf www. google.com/search=weser-kurier+30-Jahre-68.de stand eine Art Porträt über den Historiker Anton Rudolph. In Berchtesgaden geboren, seit 1962 in Bremen, woher auch seine Familie stammte. Publikationen über das Völkische und das Nordische, über Fritz Mackensen und die Propaganda der Nationalsozialisten. Schriften zu Hoetger, Modersohn und anderen. Rudolph war einer der, wie es hieß, »Anführer der Bremer Studentenbewegung« gewesen. In dem Artikel wurde er auch zitiert:
     
    Nach dem Schah-Besuch und dem Mord an Benno Ohnesorg in Berlin war ich der Meinung, Rudi Dutschke müsse bei uns in Bremen in der »Lila Eule« sprechen, dem Jazzlokal im Ostertor-Viertel. Ich bin selbst zum Flughafen gefahren, um ihn abzuholen. Und dann passierte es: Dutschke fiel auf dem Rollfeld die Schuhsohle ab, worauf ich ihm meine eigenen Schuhe gab: braune Wildlederhalbschuhe, Größe 42.
     
    Das war bestimmt erfunden, sagte sich Paul. Am Ende des Porträts berichtete Rudolph, dass er einen seiner Schuhe später in der Zeitung wiedergesehen habe:
     
    Ich erkannte meinen Schuh mehrmals abgebildet auf dem Straßenpflaster vom Kurfürstendamm in Berlin, wo der Hilfsarbeiter Josef Bachmann den Studentenführer am 11. April 1968 niedergeschossen hatte. Es war genau einer jener braunen Wildlederhalbschuhe, die ich Dutschke für die »Lila Eule« geliehen hatte.
    So ein Angeber, dachte Paul. Er konnte sich den pathetischen, heldenhaften Gesichtsausdruck schon vorstellen, mit dem Rudolph die Reporterin angeflackert hatte. Der tat ja so, als sei er - nur weil es angeblich sein Schuh war - ebenfalls mit niedergeschossen worden im historischen Kampf auf dem Kurfürstendamm, Dr. Rudolph und Dutschke also quasi zusammen.
    Man konnte ihn natürlich nicht widerlegen. Vermutlich erzählte er diese unüberprüfte Geschichte seit über dreißig Jahren. Niemand wäre auf die Idee gekommen, den halb erschossenen Dutschke zu fragen, ob er am 11. April die braunen Wildlederschuhe von Anton Rudolph aus der »Lila Eule« getragen hatte. Später konnte man ihn auch nicht mit so etwas behelligen. Dutschke musste sich sein Gehirn wieder mühsam aneignen, den politischen Klassenkampf, die Strategie zur Zerschlagung der NATO, die Theorien von Mao Zedong, Marx, Lenin, für die blöden Schuhe von Anton Rudolph war da kein Platz.
    Das Porträt endete damit, dass Rudolph beschrieb, wie alle nach Dutschkes Auftritt in die Autos stiegen und zum »Werdersee« fuhren.
     
    Die Revolution war in Bremen angekommen. Es war kein normales Baden. Es war ein Akt der Befreiung.
     
    Das konnte man im Nachhinein auch schwer widerlegen, dachte Paul. Mit Dutschke im »Werdersee«, da war natürlich jeder dabei, da sicherten sich die Bremer 68er bestimmt seit Jahrzehnten gegenseitig ab wie die Jünger am See von Nazareth.
     
    Es war kein normales Baden. Es war ein Akt der Befreiung.
    »Wie mich diese Akte der Befreiung ankotzen!«, sagte er zu Nullkück.
    Ihm fiel Weihnachten 1974 wieder ein: Bernhard Haller, der Seemann und Maler, hatte ihn und seine Mutter zum Christgebäck in seinen Zirkuswagen geladen, und als sie gerade die Stufen hochgestiegen waren, stand da die Freundin von Haller splitternackt, mit brennenden Kerzen auf ausgebreiteten Armen und mit zwei Engeln, die an den Warzen riesiger praller Brüste hingen. »Ich bin Bernadetta, der befreite Weihnachtsbaum aus Berlin-Kreuzberg«, sagte sie, Paul fing sofort an zu weinen.
    »Ständig gab es in meiner Kindheit einen Akt der Befreiung!«, erklärte er und sah Nullkück aufgebracht an. »Das ging schon mit meiner Geburt los, da wurde der Beckenboden meiner Mutter befreit. Ich kam in einer archaischen Gebärhaltung zur Welt, weißt du das eigentlich?«
    Nullkück nickte und googelte weiter.
    »Dutschke die

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