Der Marathon-Killer: Thriller
ihre Beine fiel. »Und auch sein Sohn nicht. Ich verstehe überhaupt nicht, warum sie ihn suspendiert haben. Nein, Daniel ist einer von den Guten. Und er hat auch guten Geschmack, was Frauen angeht.«
Eine halbe Stunde später lag Leila in ihrem Bett, starrte an die Zimmerdecke und bedauerte, dass sie Myers gestattet hatte, auf ihrer Couch zu nächtigen. Er schlief bereits fest, lag da wie nach einem Sturz aus großer Höhe und schnarchte laut.
Leila dachte wieder an ihre Mutter, daran, wie sie gestern Abend am Telefon geklungen hatte. Der Arzt, der ihr ursprünglich zu einem Pflegeheim geraten hatte, hatte gesagt, sie müsse damit rechnen, dass ihre Mutter zunehmend verwirrter sein würde. Trotzdem blieb es beunruhigend.
Sonntag war eigentlich ein ungewöhnlicher Tag für einen Anruf, aber nach dem Marathon am Vormittag war sie verängstigt und erschöpft. Allein in der Wohnung und nach der stundenlangen Vernehmung in Thames House fühlte sie sich wie ein kleines Kind. Als sie klein gewesen war, hatte sie sich, wenn sie über etwas reden wollte, nie an ihren Vater gewendet, der sich nur selten um sie bemüht hatte. Stets hatte sie sich ihrer Mutter anvertraut, doch nun machte ihre Stimme Leila noch mehr Angst.
»Sie sind heute Nacht gekommen, zu dritt«, hatte ihre Mutter langsam in Farsi begonnen. »Sie haben den Jungen geholt, du weißt schon, der für mich kocht. Haben ihn vor meinen Augen verprügelt.«
»Haben sie dir etwas getan, Mama?«, fragte Leila und fürchtete die Antwort. Die verwirrten Geschichten über Misshandlungen wurden bei jedem Telefongespräch heftiger. »Haben sie dich angerührt?«
»Er war für mich wie ein Enkel«, fuhr sie fort. »Sie haben ihn an den Füßen rausgeschleift.«
»Mama, was haben sie mir dir gemacht?«, fragte Leila.
»Du hast mir gesagt, die würden nicht kommen«, sagte ihre Mutter. »Andere hier haben auch gelitten.«
»Es ist vorbei, Mama. Jetzt kommen sie nicht mehr. Ich verspreche es dir.«
»Warum haben sie behauptet, meine Familie sei schuld? Was haben wir ihnen denn getan?«
»Nichts. Du weißt doch, wie das ist. Bist du jetzt in Sicherheit?«
Aber die Leitung war tot.
Leila wünschte, Marchant wäre jetzt bei ihr, sie hätte sich gern an ihm festgehalten, hätte mit ihm über ihre
Mutter gesprochen. Wenn sie sich nur unter anderen Umständen und in einem anderen Leben kennengelernt hätten. Marchant hatte das selbst oft gesagt. Aber ihre Wege hatten sich miteinander verschlungen und ließen sich nicht mehr trennen, obwohl beide gelernt hatten, einen Teil von sich stets zu verschließen, damit niemand - Agenten, Kollegen, Liebhaber - ihn erreichen konnte. Marchant war allerdings anders als jeder, mit dem sie sich bisher eingelassen hatte. Er war ein Getriebener, der alles von sich forderte und bis an die Grenzen von Erfolg und Misserfolg ging. In seinem Leben gab es keine halben Sachen. Wenn Marchant sich betrank, dann zechte er bis zum nächsten Morgen. Wenn er richtig ausschlafen musste, dann konnte er bis Mittag liegen bleiben. Und wenn er lernen musste, dann arbeitete er die ganze Nacht.
Sie erinnerte sich an den Tag, zwei Wochen nach Beginn ihres Einführungskurses im Fort, als sie nach unruhigem Schlaf aufgewacht war. Der Wind war vom Kanal hereingeweht, und die alten Fenster des trostlosen Ausbildungszentrums, eines früheren Forts aus napoleonischen Zeiten am Ende der Gosport-Halbinsel, hatten geklappert wie die Flaschen auf einem Bierwagen. Drei Rekrutinnen teilten sich ein großes Zimmer an der Nordseite des zentralen Hofes, während die sieben Männer in einem Trakt mit separaten Apartments an der Ostseite zum Meer hin untergebracht waren. Sie trat ans Fenster und sah Licht. Zwar konnte sie nicht sicher sein, ob es bei Marchant brannte, trotzdem zog sie sich einen Pullover an, warf sich den Morgenmantel darüber und machte sich leise über den kalten Hof auf den Weg.
Als sie bei den Männerunterkünften ankam, wusste sie sofort, dass die alte Holztür, unter der schwaches Licht hervorschimmerte, zu Marchants Zimmer gehörte. Zitternd zögerte sie. Am Tag zuvor hatten sie die Theorie der Agentenrekrutierung durchgenommen. Ganz allgemein konnte man Menschen aus folgenden Gründen dazu bringen, ihr Vaterland zu verraten: Geld, Ideologie, Ego und Repressalien - GIER. Sie hatten lange Unterricht gehabt und im Anschluss nur einen kleinen Drink an der Bar genommen. Marchant hatte sie bewusst ignoriert, obwohl sie den ganzen Tag in der gleichen
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