Der Marathon-Killer: Thriller
hatte ebenfalls in dem Jeep gesessen, der frontal mit einem Bus zusammengestoßen war, hatte den Unfall jedoch unverletzt überlebt.
Marchants Familie blieb bis zum Ende der Dienstzeit
seines Vaters in Delhi, was die Kollegen überraschte. Später erzählte Marchant senior, er habe nicht nach Hause zurückkehren wollen, weil die ganze Familie Indien dann für immer gehasst hätte, und das konnte er nicht gutheißen.
Marchants scheinbar lockeres Auftreten stammte aus jener Zeit in Delhi, wie Leila wusste. Jeder, der ihn kennenlernte, hielt ihn für charmant, gut gelaunt und ungezwungen (seine Ayah hatte ihn als »kleinen Sonnenschein« beschrieben), aber damit beschützte er nur einen Ort, an den er niemanden vorlassen wollte: einen Ort, an dem er noch ein achtjähriges Kind war, das seinen Bruder neben einem Fahrzeugwrack betrachtet und zuschaut, wie der Busfahrer vom Unfallort flieht; ein Ort, an den er zurückgekehrt war, als der Vater starb. Der Tod des Vaters bedeutete, dass Marchant jetzt der Einzige war, der von seiner Familie übrig blieb. Sie konnte es ihm nachfühlen, auch ihr Vater lebte nicht mehr, und die Mutter war für sie manchmal schon so gut wie tot. Ihr Vater hatte wenig Glück in ihre Kindheit gebracht, denn entweder war er fort gewesen bei der Arbeit, oder er war distanziert, wenn er zu Hause war, abends zu viel trank und der Mutter zu wenig Respekt entgegenbrachte.
Leila ging hinüber zu Marchants ungemachtem Bett, legte sich hinein, drehte sich zu einer Seite und atmete seinen schwachen Geruch aus dem Kissen ein. Er würde versuchen, sie zu erreichen, damit sie wusste, dass es ihm gut ging. In der Enge des sicheren Hauses würde er verrückt werden, aber dort war er besser dran als draußen. Schließlich hatte es nicht nur der MI5 auf ihn abgesehen, sondern auch die Leute, die Pradeep geschickt hatten.
Manchmal, wenn sie nach dem Sex beieinandergelegen hatten, in diesen kurzen Augenblicken, ehe sie zum Flughafen fuhren und in ihre getrennten Leben zurückkehrten, hatten sie sich darüber unterhalten, wo auf der Welt sie am liebsten leben würden. Marchant sprach stets zuerst; er träumte von der Thar-Wüste, der afrikanischen Savanne, von offenem Gelände und weiten Himmeln und manchmal auch von den schattigen Apfelgärten in Tarlton während des Cotswolds-Sommers. Wenn sie an der Reihe war, schwieg sie zunächst, denn die Erinnerung an die Schönheit ihres einzigen, allzu kurzen Aufenthalts im Iran raubte ihr die Worte. Schließlich erzählte sie von der fruchtbaren Ghamsar-Ebene, die von kargen Bergen eingeschlossen war, vom Duft des Rosenwassers, von den Landarbeitern mit den umgehängten Stoffbeuteln voller duftender Blüten.
Als sie noch jünger war, hatte ihre Mutter Bilder vom Iran für sie entworfen, denn sie wollte das Land für ihre Tochter lebendig erhalten. Sie rezitierte die Gedichte von Hafez, sprach beim Zubettgehen von Isfahan, und später, als die Tochter älter war, erzählte sie ihr davon, wie sie in Teherans Kaffeehäusern mit älteren Gelehrten, die Baskenmützen und schwarze Anzüge trugen, türkischen Tee getrunken hatte. Leilas Gedanken kehrten jedoch immer wieder zu den Rosengärten von Ghamsar zurück, die eine schmerzvolle Andeutung dessen waren, was hätte sein können.
Leila hatte mindestens eine Stunde geschlafen, als ihr Handy sie weckte. Im ersten Moment erwartete sie ihre Mutter, doch es war Paul Myers, der sie auf einer verschlüsselten Leitung anrief.
»Die Amis haben Daniel«, sagte er.
»Wie bitte?« Leila fuhr in Marchants Bett hoch, halb verschlafen, verwirrt von der fremden Umgebung und von Myers Stimme.
»Mehr kann ich nicht sagen«, meinte er und wählte seine Worte mit Bedacht. Selbst bei einem verschlüsselten Telefongespräch konnten manche Begriffe Alarm auslösen. »Anscheinend wurde er nach Polen geflogen.«
»Wann?« Fielding musste ihn den Amerikanern überlassen haben, vielleicht weil er jetzt davon überzeugt war, dass es eine Verbindung zwischen der Familie Marchant und Dhar gab.
»Schwer zu sagen. Irgendwann in den letzten paar Tagen.« Myers zögerte. »Wird wohl nicht gerade eine Sightseeingtour sein.«
»Nein.«
»Er packt das doch, oder?«, meinte Myers und überraschte Leila mit seiner unvermittelten Besorgnis. »Er ist so hart wie sonst keiner, das sagen doch immer alle.«
Leila dachte an die Nacht im Fort zurück, als er nach der Waterboarding-Übung zitternd neben ihr im Pub gesessen und kaum ein Wort herausgebracht
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