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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Tomeo
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oder vierzig Schritte vorwärtsgehen müssen. In diesen ersten Augenblicken müssen Sie ganz besonders auf Ihre Manieren achten, denn diese Augenblicke sind die heikelsten. Vielleicht wird der Herr Graf, bevor er den Umschlag öffnet, Ihnen mit einer nachlässigen Handbewegung bedeuten, daß Sie sich entfernen können. Rühren Sie sich jedoch nicht vom Fleck. Wenn er insistiert, dann begründen Sie Ihre reglose Haltung. »Mein Herr, der Marquis von O.«, erklären Sie ihm, »legt ganz besonderen Wert darauf, daß ich in der Nähe Euer Exzellenz bleibe, bis Sie das Schreiben zuendegelesen haben, das er Ihnen schickt und das ich Ihnen soeben überreicht habe. Mein Herr ist der Welt zu lange ferngeblieben, um jetzt Gleichgültigkeit angesichts der Reaktion an den Tag legen zu können, die ein Brief von ihm – der erste, den er seit zwanzig Jahren geschrieben hat – bei einem Herrn seines Standes hervorrufen kann. Eine Reaktion, die ich ihm dann bis in ihre winzigsten Nuancen mitzuteilen habe. Es könnte sein — erklären Sie ihm weiter —, daß dieser Brief sogar eine Art Test ist, damit mein Herr daraufhin entscheiden kann, ob es die Mühe lohnt, in sein Jahrhundert zurückzukehren oder nicht.« Ich bin überzeugt, Bautista, daß Don Demetrio, wenn Sie ihm diese Erklärung anbieten, Ihnen bereitwillig gestatten wird, in seiner Nähe zu bleiben. Das Grün Ihrer Kleidung, seinen Sinnen so angenehm, wird Ihnen die Dinge noch erleichtern. Ich meine natürlich, nur in den allerersten Augenblicken. Wir haben ja schon gesehen, wie seine Reaktionen später ausfallen können. Wovor ich Sie jetzt aber warnen muß, ist, daß in eben diesen ersten Augenblicken eine Gefahr lauert, auf die ich schon früher hingewiesen habe, ohne sie indes zu diesem Zeitpunkt ausführlich genug behandelt zu haben. Ich meine Don Demetrios Vorliebe – eine Vorliebe, die er in all diesen Jahren gewiß beibehalten hat –, die Gemüts Verfassung und Reaktionsfähigkeit seiner Gesprächspartner mit Fragen auf die Probe zu stellen, die er aus dem Ärmel schüttelt, wenn man es am wenigsten erwartet. Ich hatte Ihnen bereits das Beispiel der Landverteilung genannt, und es war klar, welche Auffassung Sie diesbezüglich vertreten sollten. Stellen Sie sich jetzt aber vor, daß er anstelle der Frage des Latifundismus irgendeine andere Frage anschneidet, zum Beispiel das Problem der Vermassung der Universitäten, von dem die Zeitungen jetzt so voll sind. »Sind Sie ein Befürworter des Numerus Clausus, Bautista?« Oder schlimmer noch: nehmen wir einmal an, der Herr Graf möchte wissen, was Sie in diesen Zeiten politischer Gärung und mannigfacher Demonstrationen von den Menschen halten, die sich für den Rückzug und das kontemplative Leben entschieden haben. In diesem Fall könnte seine Frage etwa folgendermaßen lauten: »Glauben Sie, Herr Dingsbums, daß das kontemplative Leben wirklich Tiefe hat?« Vorsicht dann mit Ihrer Antwort, mein treuer Freund, denn sie ist nicht so einfach, wie es scheint. Was Don Demetrio im Grunde zu wissen begehrt, ist, was Sie von meiner Entscheidung halten, zurückgezogen in diesem Schloß zu leben. Vielleicht hofft er zu hören, daß mein eigener Diener mich des Egoismus oder der Feigheit zeiht. Womöglich möchte er Ihnen etwas entlocken, das er später gegen mich verwenden kann. Passen Sie also gut auf, daß Sie nicht in die Falle gehen. »Mein Herr«, könnten Sie ihm etwa antworten, ohne sich eine Blöße zu geben, »wir befinden uns mitten in einer der schlimmsten Krisen, die die Geschichte je erlebt hat. Zweifellos stehen wir auf der Schwelle zwischen zwei Zeitaltern. Das eine geht zuende und kämpft bis zuletzt, um seine gemeinschaftlichen Traditionen zu erhalten. Das andere will sich, koste es was es wolle, seinen Weg bahnen und die Sitten verändern.« Möglicherweise gibt sich der Herr Graf mit dieser Antwort zufrieden. Es kann jedoch ebensogut sein, daß er weitere Erklärungen verlangt. »Alles, was Sie da sagen, ist schön und gut«, wird er in diesem Fall beharren, »doch sagen Sie mir ein für allemal, was Sie vom kontemplativen Leben halten. Ohne Umschweife.« Bleiben Sie jedoch bei Ihrer Zweideutigkeit. »Der Zusammenprall dieser beiden Zeitalter«, antworten Sie, »war heftig und hat in unzähligen Seelen Unruhe und Verwirrung gestiftet.« Don Demetrio wird ungeduldig werden. »Aber was bedeutet das alles in Ihren Augen?« wird er fragen und dabei die Fäuste ballen. Lassen Sie sich nicht einschüchtern,

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