Der Marschenmörder
Küchenbank. Hanne Schwarzkopf hat ihm ein Kissen hinter den Rücken geschoben, ihm Tee und Gebäck hingestellt. Doch Timm rührt nichts an, fragt nur mit leicht erregter Stimme: „De Mann, de Dokder Rötger, wat will de vun mi?“
Da erscheint Rötger, schiebt einen Stuhl heran, setzt sich und fixiert Timm mit nachdenklichem Blick. „Ich bin Justizrat und mit der Ermittlung des schrecklichen Ereignisses beauftragt. Sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?“
Timms Gesicht wird um einen Schein fahler. Nun wird ihm vollends bewusst, dass sein Plan misslungen ist. Asche sollte übrig bleiben. Nichts als Asche. Und jetzt sitzt ein Kriminaler vor ihm und und stellt gefährliche Fragen.
Geahnt hat er es schon während seiner „Ohnmacht“, die, wie er später zugeben wird, vorgetäuscht war. Zwar war er über Stunden hinweg in tiefen, ohnmachtsähnlichen Schlaf gesunken, doch in halbwachen Zwischenphasen hat er diesen Zustand simuliert und aus erregtem Flüstern zwischen Hanne und Nachbarinnen herausgehört, dass von Mord un Dootslag die Rede war.
Blitzschnell erkennt er, dass er sich auf eine völlig neue Situation einstellen muss. Der weißhaarige, elegant gekleidete Herr, nur einen halben Meter von ihm entfernt, forscht nicht nach der Ursache eines verheerenden Großbrandes. Der sucht einen Mörder.
Oder mehrere, schießt es Timm durch den Kopf. Eine Bande von Räubern, die einen Hof überfielen, die Bewohner massakrierten und die Gebäude in Brand setzten, um Spuren zu verwischen. Und er, Timm, ist ihnen zufällig entkommen.
Als hätte er Timms Gedanken erraten, stellt Rötger fest: „Sie haben unwahrscheinliches Glück gehabt, den Mördern zu entkommen.“
Timm entgeht, dass der Herr Justizrat das Wort unwahrscheinliches leicht betont hat. „Wer kann das getan haben?“, stammelt er mit tränenerstickter Stimme.
Rötger lehnt sich zurück: „Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber seien Sie sicher, wir werden es herausfinden.“
„Wir?“ Timms Mattigkeit ist verflogen. Rötger nickt bedächtigt: „Noch heute wird eine Commission eingesetzt unter meiner Leitung. Alle Polizeistellen des Landes sind informiert.“ Friedrich Rötger lässt den Blick nicht vom Gesicht des jungen Mannes, der sich nun nicht mehr bleich und benommen gegen das Kissen lehnt, sondern sich zusehens ereifert.
„Gut so. Sie müssen sie finden. Die Verbrecher, die meine Familie …“ Timm stockt, blickt den Dokder misstrauisch an: „Aber, was kann ich dabei tun?“
Der erfahrene Beamte legt seine Hand auf Timms Arm: „Sehr viel, Herr Thode. Sehr viel. Und Sie werden mir alles erzählen. Jede noch so unwichtig erscheinende Kleinigkeit.“ Timm seufzt: „Also gut. Fragen Sie.“
Friedrich Rötger strafft sich: „Es ist vieles merkwürdig an Ihrer Rettung. Sie sind einem fürchterlichen Blutbad entkommen. Als Einziger. Ohne Verletzungen. Mitsamt dem im Haus befindlichen Vermögen. Sie müssen zugeben, dass das Fragen aufwirft.“
Timm fährt hoch. Hebt abwehrend die Hände: „Sie glauben doch nicht, dass ich etwas …“
Friedrich Rötger schüttelt ungeduldig den Kopf: „Was ich glaube, spielt keine Rolle. Nur was ich weiß. Und um dieses Wissen zu erweitern, bitte ich Sie um Ihre Mithilfe.“
Hanne kommt mit dem Teegeschirr aus der Gooden Stuuv, blickt besorgt auf Timm, dann zum Ermittler: „Herr Rat, der Dokder hat angeordnet …“ Rötger hebt beruhigend die rechte Hand: „Ich weiß, gute Frau. Aber der Patient scheint mir durchaus in der Lage, ein paar Fragen …“
„Ein paar Fragen?“ schreit Timm wütend. Und verfällt in seine Umgangssprache. „Dat is een Verhöör. As wenn ik … Un dorbi heff ik allens verloorn.“
„Nicht alles“, sagt Dr. Rötger schärfer als beabsichtigt, „Sie sind immerhin Erbe eines stattlichen Vermögens.“
Zweifelnd beißt sich Friedrich Rötger auf die Unterlippe. Und fragt sich, ob es nicht zu hart, zu herzlos war, einem Menschen, der gerade den Verlust seiner gesamten Familie erfahren hat, auf das zu erwartende Erbe anzusprechen. Ihm als Trost vorzuhalten, er habe nicht alles verloren.
Hat er sich getäuscht, als er für den Bruchteil einer Sekunde in Timms Augen Gier aufblitzen sah? Sofort hat sich dessen bleiches Gesicht wieder verfinstert und verschlossen. Doch der Jurist weiß, dass er die Gunst der Stunde nutzen, am Ball bleiben muss. So fährt er ungerührt fort: „Sie konnten eine Kassette retten. Kennen Sie den Inhalt?“
Timm
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