Der Marschenmörder
fasst Mohrdieck nach. „Und wenn es gar keine Unbekannten waren? Sondern Komplizen?“
Erstmals verlässt Timm der gespielte Gleichmut. Er springt auf. „Ich weiß, was Sie wollen. Ich soll mitgemacht haben. Aber ich hab nicht mitgemacht. Ich kenn die Leute nicht.“
„Setzen Sie sich. Und überlegen Sie in Ruhe, bevor Sie uns mit Mutmaßungen und Schlussfolgerungen kommen.“ Mohrdiecks Stimme ist gefährlich leise. Dann kommt ein warnender Ton hinzu: „Und belügen Sie uns nicht!“
Timm setzt sich wieder, versucht ein überlegenes Lächeln. „Wenn das stimmen sollte, dass ich die Kerls gekannt und mitgemacht hab, dann hätten Dokder Rötger und Dokder Schütt das längst rausgebracht. Das sagen auch die Leute. Und dann wär’ ich auch längst nich mehr hier.“
Wieder ein kurzer Blickwechsel zwischen den Fahndern. Und Schütt registriert: Zweiter Fehler. Fiktive Identifikation mit den Vernehmern.
Mohrdieck ist mit dem Ergebnis der ersten Befragung höchst zufrieden. Mit sicherem Gespür für den Zeitpunkt, ein Verhör abzubrechen, nickt er Timm begütigend zu: „Tscha, mein lieber Thode, das wär’s für heute. Aber wir werden uns noch öfter und eingehender unterhalten. Lassen Sie sich alles nochmals durch den Kopf gehen. Jede Einzelheit.“
„Ich weiß nix mehr. Wirklich nix“, versucht Timm einzuwenden. „Doch, doch, erwidert Mohrdieck leicht ungeduldig, „Sie wissen mehr. Viel mehr. Und Sie werden Zeit haben. Zum Nachdenken. Denn Sie bleiben bei uns. Herr Tietjens wird sich um Sie kümmern. Und dafür sorgen, dass es Ihnen nicht schlecht geht.“
Entgeistert blickt Timm von einem zum andern. Schaudernd wird ihm klar, dass er nicht zurückkommt in sein behagliches Junggesellenzimmer bei Jens in Sude. Und bemerkt erst jetzt, dass neben dem Schreibpult des Protokollführers ein Uniformierter steht, ein Mann mittleren Alters von kräftiger Statur und gutmütiger Ausstrahlung.
Schütt geht auf ihn zu. „Bringen Sie ihn in Zelle zwei unter. Und sorgen Sie dafür, dass er vernünftig zu essen bekommt. Er kann’s bezahlen.“
Rudolf Tietjens knallt die Hacken zusammen. „Jawoll, Herr Obergerichtsrat.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Meine Frau ist eine hervorragende Köchin. Die kann leicht mit der Frau von Wöhlers mithalten.“
Er umfasst Timms rechten Unterarm. „Gehn wir also. Kommen Sie.“
„Wohin bringen Sie mich?“ Unruhig blickt Timm zu dem ihm um einen halben Kopf überragenden Wärter auf.
Rudolf Tietjens weist in Richtung eines grauen Gebäudes mit einem spitzen Türmchen. „Dorthin. Sie werden in einer Kirche untergebracht.“
Ungläubig schüttelt Timm den Kopf: „In einer Kirche? Das gibt’s nicht.“
„Nun ja. Die alte Nikolaikirche. Die hat ausgedient, seit wir die große Laurentiuskirche in der Stadtmitte haben. Und St. Nikolai wurde umgebaut zum Gefängnis. Sechs Zellen. Zwei für Untersuchungsgefangene, vier für Verurteilte. Und eine Dienstwohnung.“
Rüstig schreitet er aus, und der leicht hinkende Timm hat Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
„Willkommen bei uns daheim.“ Tietjens schließt die Zellentür auf. Und Timm wird mit Schaudern bewusst, dass es mit seiner Freiheit vorbei ist. Die Zelle – Eisenbett, Tisch und Stuhl, Bücherbrett, Notdurfteimer, Gitterfenster – erschreckt ihn.
„Gemütliche Bude“, versucht er dennoch zu scherzen. Tietjens, in seinem Refugium ganz der Hausherr, geht nicht darauf ein, kündigt nur kurz an: „Ich bring’ Ihnen gleich was Ordentliches zu essen.“
Hart fällt die schwere Eisentür ins Schloss. Hässlich knarrt der Schlüssel, mit dem Tietjens den Gefangenen einschließt. Ein paar Minuten bleibt er vor der Tür stehen. Horcht. Denn er weiß aus Erfahrung, dass die ersten Stunden für einen Häftling die gefährlichsten sind. Dass sie einhergehen mit Tobsuchtsanfällen, Zerstörungswut und Suizidversuchen. Außerdem hat Mohrdieck ihm bereits vor Timms Verhaftung eingeschärft, ein wachsames Auge auf den Inculpanten zu haben, sein Verhalten zu beobachten und der Obercommission Auffälligkeiten mitzuteilen. „Und natürlich Einzelhaft, strengste Abschirmung gegen Mithäftlinge. Keine Briefe. Keinen Besuch.“
Mit gesundem Appetit macht sich Timm über das Abendessen her, Rührei mit Schinken und Bratkartoffeln, Käsebrot und Fleischsalat. Dazu Frischmilch, Tee, Obstsaft. Tietjens, selbst ein starker Esser, staunt über die Fresslust seines unfreiwilligen Gastes. Doch er bleibt aufmerksam, verharrt fast eine
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