Der Maskensammler - Roman
barfüßiger Junge auf, er streckte den Kopf vor, wie um herauszufinden, was den Mann beschäftigte, und begann dann vorsichtig, an dem Portemonnaie in der Gesäßtasche des Mannes zu ziehen. Bernhard hielt den Atem an. Der Junge warf ihm einen flehenden Blick zu, war dadurch einen Moment von seinem Vorhaben abgelenkt, da fuhr der Mann herum, stieß den Jungen zu Boden und holte aus, um ihm ins Gesicht zu treten. Der Junge wand sich vor ihm im Staub der Straße und versuchte, sein Gesicht zu schützen. Jetzt trat der Mann zu, aber nur mit halber Kraft in das Hinterteil des Jungen. Darauf warf er zweiMünzen aufs Pflaster. Bevor er davonschlenderte, rief er Bernhard zu: «Dat is mijn zoon, maar hij weet het niet.»
***
Nach einer unruhigen Nacht, die Bernhard dem Umstand verdankte, dass Antje ihm nach ihrer Rückkehr zum Abschied einen Kuss gegeben hatte, fand er unten im Hotel zwei Nachrichten vor. Die erste war von Dr. Holzer: «Lieber Freund, ich mache eine Visite (nicht beruflich). Sie werden also ohne mich frühstücken müssen. Spätestens morgen werde ich zurück sein. Verbringen Sie einen angenehmen Tag. Ihr Ulrich Holzer.»
Die andere war von Antje: «Guten Morgen, mein Lieber! Heute habe ich zu tun. Aber morgen könnten wir einen Ausflug in die Berge machen. Es gibt dort einen alten Tempel, er ist sehenswert. Im Übrigen hat uns meine Mutter bei einer Dukun angemeldet, der ich gern ein paar Fragen stellen würde. Sie vielleicht auch? Also: Sie müssen mitkommen, Sie haben gar keine Wahl. Bis morgen! Antje – P.S.: Meine kleine ‹Aufdringlichkeit› kam von Herzen, Sie hätten nicht zusammenzucken müssen. Aber Kompliment, für einen Deutschen haben Sie erstaunlich weiche Lippen.»
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Noch bevor der Ausflug zustande kam, hatte Bernhard ein Erlebnis, dem er zunächst keine Bedeutung beimaß, das aber Wochen später eine unerwartet heftige Nachwirkung haben sollte. Auf einem Spaziergang durch die Altstadt zog ihn Frank in einen Hinterhof. Auf einer weiß getünchten Hauswand lief ein Film. Davor saßen auf Stühlen, Bänken und weiter hinten auf Tischen Männer und knackten Pistazien oder Erdnüsse. Ihre Schalen bedeckten den Boden wie eine Matratze. Der Film flimmerte, aus einem Lautsprecherertönte eine schnarrende Stimme, die mit der professionellen Erregung eines Reporters in unverständlichem Niederländisch die Bilder kommentierte.
Bernhard fühlte sich gefangen in der Dunkelheit der hoch aufragenden Mauern. Aber niemand schien ihn zu beachten. Gerade, als er sich ein wenig entspannte und wieder freier atmen konnte, sah er, dass über ihm von drei Seiten unzählige Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Auf Balkonen saßen dicht gedrängt Frauen, die unter schwarzen Kopftüchern auf ihn starrten. Eine Nussschale streifte ihn am Ohr. «Merapi. Merapi», hörte er Frank sagen.
Bernhard verstand das Wort nicht, ihm war unklar, was der Junge sagen wollte. Er sah die sanften Konturen eines dunkel aufragenden Kegels. Noch bevor er begriff, dass es ein Berg war, hörte er ein Grollen. Der Berg erzitterte, dann bildete sich in seinem oberen Drittel eine Deformation, eine gewaltige Blase, sie zerplatzte, ein Teil der Gipfelrundung sackte in sich zusammen. Jetzt bebte der ganze Berg, auf halber Höhe lösten sich Erdschollen, groß wie Fußballfelder, rutschten an den Flanken in die Tiefe, gespickt mit ausgerissenen Bäumen. Die Stimme des Kommentators ging in Krachen und Splittern unter.
Der Gipfel des Berges war in einer Rauchwolke verschwunden, die den Himmel verfinsterte. Feuer flackerten auf, was da brannte, mussten Hütten eines Dorfes sein. Graue Gestalten wie aus der Unterwelt liefen mit zu schwarzen Löchern aufgerissenen Mündern auf die Kamera zu. Das nächste Bild zeigte zwei verkohlte Tierkadaver. «Inferno!», die Stimme aus dem Lautsprecher überschlug sich. Dann brach der Film ab, man hörte wieder das Knacken der Nussschalen.
Bernhard hob die Hand, als müsste er sich Asche aus dem Gesicht wischen. In dem Moment war aus einiger Entfernung das Rauschen eines anderen Lautsprechers zu hören. Über die Dächer rief der Muezzin in melancholischem Singsang zum Nachtgebet.Die Männer glitten auf den Boden, knieten auf dem Schalenteppich und verbeugten sich Rücken an Rücken in dem alten Ritual.
Bernhard spürte einen Druck auf der Brust, Panik stieg in ihm hoch. Ohne auf Frank zu achten, drängte er zum Ausgang.
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Der Morgen des nächsten Tages war strahlend schön. Ein nächtlicher
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