Der Maskensammler - Roman
Regenguss hatte den Staub vom Straßenpflaster gewaschen, und wie durch Zauberhand war die Dunstglocke verschwunden, die Bernhard für einen festen Bestandteil des hiesigen Klimas gehalten hatte. Er atmete auf. Er rasierte sich sorgfältig, rieb sich vor dem Spiegel die Wangen ein, überprüfte den Sitz seiner Hose und den Glanz seiner Schuhe und konnte sich kaum davon abhalten, eines der Lieder aus Kinderzeiten zu pfeifen, als er die paar Hundert Schritte zu seinem Stammcafé ging.
Wie üblich wartete Frank auf ihn. «Nein, heute nicht. Ich habe was anderes vor. Ich fahre aufs Land. Wohin? Das weiß ich nicht genau. Ja, morgen wieder. Vielleicht.» Enttäuscht zog Frank ab. Bernhard hatte gerade einen Tee bestellt – «Very hot, please!» –, als Antje hereinkam. Bernhard achtete für gewöhnlich nicht darauf, was er oder andere anhatten, aber jetzt sah er, dass sie ein leicht ausgeschnittenes, lindgrünes Kleid trug, dessen enger, fast bodenlanger Rock auf einer Seite bis zur Höhe ihrer Knie geschlitzt war. Er sah ihre glänzenden Augen, er sah die zur Begrüßung vorgestreckte Hand, die er ergriff und am liebsten nicht mehr losgelassen hätte. Er war verwirrt, aber weit weniger, als er befürchtet hatte. Wieder war er in Versuchung, ein Liedchen zu pfeifen.
Der Bus der «blauen Linie» war gelb und violett gestrichen und auf den Seiten mit Zeichen beschriftet, die Antje mit «Düfte des Orients» übersetzte. Und tatsächlich durchzogen sein Inneres trotz der geöffneten Fenster süßliche, bitter-herbe Geruchsschwaden,von denen man nicht sagen konnte, ob sie den Sitzpolstern, den Achselhöhlen der Mitreisenden oder deren Gepäckbündeln entströmten.
Der Fahrer verkaufte ihnen die Fahrscheine, und als Antje ihn bat, das Wechselgeld zu behalten, machte er ihnen Platz, indem er zwei Jugendliche von den Sitzen gleich hinter ihm vertrieb. Während er sich laut hupend seinen Weg durch das Chaos der Vorstadt bahnte, erzählte er, dass er mit den «Düften des Orients» eine Strecke so weit wie von der Erde bis zum Mond zurückgelegt hätte. Auch wäre er bereit, für so noble Fahrgäste wie sie anzuhalten, wo immer sie aussteigen wollten. «Nein, nein, wir bleiben Ihnen bis zur Endstation erhalten», antwortete Antje, worauf er ihr ausführlich die Sorgen um seine fünf Kinder anvertraute.
Antje übersetzte den Wortschwall des Fahrers in einer Kurzfassung und erklärte Bernhard dann die Bewässerungstechnik der Reisfelder. Um sie zu verstehen, musste er so nah an sie rücken, dass sich ihre Oberschenkel berührten. Da legte er, einem plötzlichen Impuls folgend, den Arm auf ihre Rücklehne und streichelte – während er wie gebannt aus dem Fenster blickte – mit den Fingerspitzen die Haut ihrer Schulterblätter. Antje unterbrach sich, ließ ihre linke Hand auf sein Knie gleiten und fuhr dann fort, die Mühen der Reisernte zu schildern.
Am Zielort verabschiedeten sie sich von dem Fahrer wie von einem alten Bekannten, er wünschte ihnen Allahs Segen und fügte noch etwas hinzu, das Antje zu übersetzen sich weigerte. Er winkte einen Jungen herbei, den er als den ältesten Sohn seines besten Freundes vorstellte. Der sollte sie zu dem Tempel führen. «Nichts als ein Haufen grauer Steine, aber alt.»
Der «Haufen grauer Steine» ließ noch einen pyramidenförmigen Aufbau erkennen, die unteren Treppenstufen waren weggebrochen, Antje meinte, die Quader wären von den Dorfbewohnern zum Bau ihrer Häuser verwendet worden. An der Nordseiteentdeckte sie ein Relief im Wayang-Stil, auf dem man eine Palme und unter einem mit Schindeln gedeckten Dach kniende Figuren erkennen konnte. Bernhard fühlte sich an seine Studienzeiten erinnert und meinte, eine Ähnlichkeit zu figürlichen Darstellungen der Azteken feststellen zu können, eine Bemerkung, die Antje als «Unsinn» abtat. Die Erwähnung des Wayang-Stils löste bei ihr einen kurzen Vortrag über altjavanische Kultur hindubuddhistischer Prägung aus. Sie sprach über die größeren und weitaus besser erhaltenen Tempelanlagen in der Nähe der Städte Yogyakarta und Surakarta. «Sie dürfen Java nicht verlassen, ohne den Borobudur gesehen zu haben. Er ist eines der bedeutendsten Bauwerke des Buddhismus, ein Weltwunder.» Sie wollte ihm bei nächster Gelegenheit Masken aus dem Barong-Rangda-Drama und Figuren des Schattenspiels zeigen. Zum Beispiel Shiva Murti in seiner schrecklichen, mehrköpfigen Gestalt oder Bhatara Kala, eine blutrünstige Gottheit, die aus einem
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