Der Maskensammler - Roman
Alkohol tat sofort seine Wirkung. «Wenn du willst, kannst du hierbleiben, um dich zu erholen», sagte er. «Bitte» oder «Ich bitte dich» hätte er sagen wollen, aber dazu war es schon zu spät. «Ich bleibe eine Woche. Dann fahre ich nach Berlin. Vielleicht hat man dort Verwendung für einen Arzt wie mich.» Und als er Bernhard ins Gesicht sah, fügte er hinzu: «In Berlin werde ich als Internist arbeiten und mit dem Trinken aufhören.» Er versprach, Bernhard jedes Jahr zu besuchen.
***
Als wieder Ruhe eingekehrt war und Bernhard sich in der gewohnten Ereignislosigkeit von dem Besuch erholt hatte, fiel ihm der Karton ein, den er im Sekretär seines Vaters gefunden und irgendwo auf einem Regal abgestellt hatte. Er verteilte die Fotos auf seinem Schreibtisch wie ein Kartenspiel mit der Bildseite nach unten. Weil es der sechste Tag der Woche war, entschloss er sich, jedes sechste umzudrehen: Nora und er als Kinder hinter einem rassigen Jagdhund, dem die Zunge aus dem Maul hing; Egon von Riederer mit einem Jagdkameraden, beide in Knickerbockern, den rechten Fuß auf einen erlegten Keiler gestellt; eine Frau in ländlicher Tracht, das Gesicht fast ganz durch einen breitkrempigen Strohhut verdeckt; ein Gruppenbild mit Egon von Riederer inmitten seiner Studenten; wieder die Frau, jetzt ganz in Schwarz vor einem Spiegel, aus dem sie ohne ein Lächeln in die Kamera blickte.Und er, Bernhard, als vielleicht Dreijähriger an jene Frau geschmiegt, deren Gesicht auf dem Bild unscharf war.
Bernhard starrte das Foto an, hielt es sich dicht vor die Augen, wie auf der Suche nach einem Detail, das ihm Aufschluss geben könnte. Hinter seiner Stirn formte sich ein Gedanke, zögernd erst, dann immer unabweisbarer: Diese Frau musste … diese Frau war seine Mutter! Hastig deckte er jetzt die anderen Fotos auf, wischte alle vom Tisch, bis er wieder auf eines stieß, das die Frau zeigte. Den Kopf in die Hände gestützt, saß er in ihren Anblick versunken da. «Mutter», flüsterte er so leise, dass die Masken es nicht hören konnten.
Die nächsten Tage war Bernhard außerstande, an etwas anderes zu denken als an die Frau in Schwarz, seine Mutter. Sie war ständig um ihn. Schweigend stand sie im Raum, wenn er morgens erwachte, folgte ihm nur für ihn sichtbar durchs Haus, begleitete ihn wie ein Schatten, wohin er auch ging. Nachts erschien sie ihm in seinen Träumen, immer mit dem melancholisch-abweisenden Lächeln, das er auf den Fotos entdeckt hatte. In seinen Phantasien floh er mit ihr durch steinige Wüsten bis in ein Land, in dem sie als Königin verehrt wurde. Oder sie fuhren als einzige Passagiere auf einem Schiff den Nebeln am Ende der Welt entgegen. Er geriet in einen Zustand, der einer Hypnose glich, reagierte verschreckt, wenn Katrin ihn ansprach, und konnte auch einfache Fragen nur mit einem hilflosen Kopfschütteln beantworten.
Katrin beobachtete seinen seltsamen Zustand eher missbilligend als besorgt und riet ihm, eine kalte Dusche zu nehmen. Sie wäre bereit gewesen, ihm die kalten Füße zu massieren, aber dazu kam es nicht. Sie wollte, um aufzuräumen, vielleicht auch, um die Ursache seiner Erregung aus dem Blickfeld zu schaffen, den Karton samt Inhalt wieder im Regal verstauen. Da riss er ihr den Packen Briefe aus der Hand und trug ihn an seine Brust gepresst wie eine Beute hinauf in sein Schlafzimmer.
Die Briefe waren alle in derselben Handschrift abgefasst. Sie waren nicht datiert und nicht länger als je eine Seite. Bernhard war zu aufgewühlt, um mehr als die Anreden zu lesen: «Mein Allerliebster», «Egon, meine Liebe», «Liebster», «Geliebter Professor», «Liebster Freund», «Mein lieber Gemahl», «Lieber Egon, lieber Mann», «Lieber Egon», «Egon». Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, er weinte.
Wie ein Patient, der ein Medikament dreimal täglich einnehmen muss, las Bernhard von nun an morgens, mittags und abends je einen Brief, las sie mehrmals, bis er sie fast auswendig konnte. Nach und nach erst wurde ihm ihre Botschaft klar: Die Schreiberin war auf unbestimmte Zeit in einem Sanatorium, einer Krankenanstalt, «einem Verlies». Die «weißen Männer», ihre «Kerkermeister», gaben ihr «blaue Zuckerl», die sie schläfrig und «hohl wie einen römischen Weinkrug» machten. Sie wartete auf Besuch, aber Egon kam nicht: «Wahrscheinlich willst Du Dir meinen Anblick ersparen.» Er antwortete ihr selten: «Wieder eine Woche ohne eine Zeile von Dir!» Sie machte ihm Vorwürfe: «Du hast
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