Der Maskensammler - Roman
Corporal oder Leutnant und wohl auch nicht der Spross eines alten Adelsgeschlechts war, wie seine herrische Höflichkeit vermuten ließ, wäre eine Episode ohne Bedeutung geblieben, wenn er nicht bei Bernhard zwei Reaktionen hervorgerufen hätte, die sein Verhalten langfristig prägen sollten. Nach dem Ende der Liebesbeziehung zu Antje, die nichts weiter als eine große Enttäuschung gewesen war, war die Drohung, Haus «Diana» durch eine Beschlagnahme zu verlieren, ein weiterer Beweis für ihn, dass es ein dauerhaftes Glück nicht gab und niemals geben könne. Zum anderen hinterließ die Bemerkung von der «reizenden Haushälterin» beiihm eine dunkle Ahnung und aufdringliche Phantasien, die nicht allein mit Fürsorgepflicht zu erklären waren. Es dämmerte ihm, dass im Haus nebenan nicht ein als Haushälterin angestellter dienstbarer Geist, sondern eine Frau lebte, an der andere Männer Gefallen fanden. Im Bewusstsein dieser beiden Erkenntnisse schrieb er in sein Tagebuch: «Heute werde ich vierunddreißig Jahre alt. Den Geburtstag werde ich nicht begehen, erst recht nicht feiern, ich werde ihn zubringen, ohne der abgelaufenen Zeit nachzutrauern. Wenn man ‹Mitte› nicht mit Fülle übersetzt, könnte dies rein rechnerisch die Mitte meines Lebens sein. Ich habe keine Vorstellung, womit ich die zweiten vierunddreißig Jahre ausfüllen sollte. Meine einzige Hoffnung ist, dass alles so bleibt, wie es ist, und das Schicksal mir jähe Veränderungen erspart.»
***
Zur Unzeit, weil gerade Katrin bei ihm war, die Bernhard wegen seiner mal wieder tauben, eiskalten Füße gerufen hatte, stand ein Mann mit einem Sombrero auf dem Kopf im Hof. Um sich bemerkbar zu machen, warf er eine Handvoll Kiesel gegen die Fensterscheiben des Zimmers im ersten Stock und rief: «Señor Riederer, por favor, Bernhard, ich bin’s, Ulrich!» Bernhard glaubte zu träumen. Erst als wieder eine Salve kleiner Steine die Scheiben traf, schlüpfte er in seine Hosen und trat auf den Balkon. Die Stimme des Mannes da unten kam ihm bekannt vor, sein Gesicht war nicht zu erkennen: Er trug einen Bart und eine große Sonnenbrille.
Augenblicke später stand er ihm gegenüber. Bernhard wusste nicht, wie ihm geschah: Der Mann legte die Arme um seine Schultern und drückte ihn mit unerwarteter Kraft an sich. An der Stimme erkannte er ihn, es war Ulrich, tatsächlich Ulrich! Er lachte, lachte dem Freund in sein bärtiges Gesicht, Tränen liefen über seine Wangen, seine Nase war verstopft, er japste nach Luft,aber immer noch lachte er. Ulrich taumelte, verlor das Gleichgewicht, sie hielten sich in einem irren Tanz, einer klammerte sich an den anderen, schwindelig und außer Atem lehnten sie sich an die Hauswand. «Wo kommst du denn her?», fragte Bernhard. Nichts anderes fiel ihm ein. «Aus Argentinien», antwortete Ulrich. Und wieder brachen sie in Gelächter aus, als wäre dies ein köstlicher Witz.
Ulrich reiste mit leichtem Gepäck. In einem Arztkoffer mittlerer Größe hatte er statt Medizinfläschchen und Tuben mit Salben ein zweites Paar Schuhe und Wäsche zum Wechseln verstaut. Außerdem hatte er eine Einkaufstüte mit vier Flaschen Wein mitgebracht: «Rheingau. Kein edler Tropfen, ziemlich süß, aber genießbar», sagte er und entkorkte die erste Flasche. Bernhard nippte nur am Glas, aber Ulrich trank in kräftigen Zügen: «Hurra, wir leben noch! Darauf lass uns anstoßen!» Dann kam seine Geschichte, er erzählte sie nicht, sie sprudelte aus ihm heraus: «Ich wollte mal einen anderen Teil der Welt sehen. Also habe ich auf einem Engländer angeheuert, der nach Argentinien fuhr. Weg vom Krieg, weg von den Nazis und der ganzen Scheiße. Das Leben an Bord hatte Stil: zu jeder Tageszeit Tee und abends Rum oder Whisky so viel man wollte. ‹Ay, ay, Sir, jawoll Sir, sofort Sir.› Jeder Wunsch wurde einem von den Lippen abgelesen. Und dann Buenos Aires, eine Stadt der Lebensfreude, sage ich dir. Schon im Hafen werfen dir die schönsten Mädels Kusshändchen zu, du musst nur zugreifen. Mit einer Schwarzhaarigen habe ich auf den Straßen Tango getanzt. Und im ‹Hofbräuhaus› hatte ich meinen Stammtisch. Auf der einen Seite saßen die alten Nazis und schwärmten von Hitler und den Autobahnen, die er gebaut hat, auf der anderen Seite saßen wir Juden, tranken Bier und schwärmten vom Berlin der Zwanzigerjahre. Eine verrückte Situation. Kaum an Land, hat man mir den Posten eines Chefarztes in einer großen Klinik angeboten, da konnte ich nicht Nein
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