Der maskierte Tod
Vorfahr erspart geblieben, hätte ich vielleicht Nora Jones nicht getroffen oder die vergangenen Gefahren nicht überlebt. Dennoch benötigte ich ein hohes Maß an eiserner Entschlossenheit, welches mich davon abhielt, seinem Furcht einflößenden, bedrohlichen Bild an der Wand eine lange Nase zu drehen.
Die Geschichten, die ich über ihn vernommen hatte, variierten. Laut Mutter und Tante Fonteyn war er ein strenger, aber gerechter Heiliger gewesen, der über grenzenlose Weisheit verfügte, und dessen Urteil niemals irrte. Laut Vater war er ein Autokrat der schlimmsten Sorte gewesen, der zu leidenschaftlichen Anfällen neigte, welche an Wahnsinn grenzten, wann immer ihm jemand in die Quere kam. Da ich viel Respekt für die Meinung meines Vaters empfand, war ich geneigt, seine Version zu glauben. Schließlich gab es auch genug sichtbare Beweise dafür, da Großvaters Reizbarkeit genauso sicher an seine Töchter weitergegeben worden war, wie Haar- und Augenfarbe weitervererbt wurden.
In einem großen Sessel unter dem Porträt, seitlich ein wenig versetzt, thronte Tante Fonteyn, und sie nach einer so langen Abwesenheit wieder zu sehen, war alles andere als ein Vergnügen. Eine Sekunde lang dachte ich verstört, es sei Mutter, denn die Frau, die uns so finster anblickte, als wir hereinkamen, zeigte die gleiche Haltung wie sie und trug sogar ein Kleid, welches aus dem gleichen Material gefertigt war wie eines von Mutters Lieblingskleidern. Aber der Schnitt war ein anderer, was mich daran erinnerte, dass Tante Fonteyn ihrer jüngeren Schwester vor ungefähr einem Jahr einen Ballen dieses Stoffes als Geschenk geschickt hatte.
Ihr Haar sah ebenfalls anders aus, da es wesentlich höher aufgetürmt und in einem aufwändigeren Stil frisiert war, doch wie Mutter umklammerte sie einen geschnitzten Kratzstab aus Elfenbein, um ihn je nach Bedarf zu benutzen, sei es nun, um damit nach Reizungen an ihrer seit langem unter Perücken begrabenen Kopfhaut zu stochern, oder um einen Punkt zu unterstreichen, wenn sie sprach.
Sie war nicht merklich gealtert, obgleich dies aufgrund der zahlreichen Schichten knochenbleichen Puders, welche ihr Gesicht mit einer dicken Kruste überzogen, schwer zu beurteilen war. Die Falten um ihre Mundwinkel waren ein wenig tiefer; Lachfältchen um ihre Augen existierten nicht. Jeder von uns erhielt einen kalten und missbilligenden Blick aus ihren frostigen Augen, bevor sie sich erwartungsvoll an Oliver wandte und er sie formell mit einer tiefen Verbeugung begrüßte. Ich folgte seinem Beispiel, und Elizabeth machte einen Knicks. Solche Gesten waren eher für eine königliche Audienz geeignet, aber Tante Fonteyn war, praktisch gesehen, unser königliches Oberhaupt. Durch den letzten Willen ihres Vaters besaß sie die Kontrolle über das Familienvermögen, das große Haus, und somit über den Rest des Clans. Dies ließ sie niemanden je vergessen.
»Es ist auch höchste Zeit, dass du hierher kommst«, schalt sie ihn, wobei die Kälte ihrer Stimme zu der ihrer Augen passte. »Wenn ich dich in dieses Haus einlade, Junge, musst du zur vorgegebenen Zeit herkommen, ohne Ausflüchte.
Verstehst du mich?«
»Ja, Mutter«, antwortete er demütig. Sein Blick konzentrierte sich auf eine bestimmte Stelle kurz über ihrem linken Ohr.
»Du denkst vielleicht, dass du beschäftigt genug damit seiest, dich mit deinen so genannten Freunden zu betrinken und Schlimmeres zu tun, aber ich werde mich niemals wieder auf diese Weise verspotten lassen.«
Und auf welche Weise würden Sie sich gerne verspotten lassen, Madam?, dachte ich respektlos. So furchtbar sie auch war, so hatte ich doch noch schlimmere Menschen als Tante Fonteyn getroffen. Diese Erkenntnis überraschte und erfreute mich gleichermaßen.
»Was findest du so amüsant, Jonathan Fonteyn?«, verlangte sie zu wissen.
»Nichts, Madam. Meine Nase kitzelt.« Um die Wahrheit dieser Aussage zu unterstreichen, rieb ich sie mit dem Fingerknöchel. Dies war zwar nicht der beste Ersatz für eine lange Nase, aber besser als nichts. Verstohlen warf ich einen Seitenblick auf Elizabeth, die warnend eine Augenbraue hob. Sie erahnte irgendwie meine respektlosen Gedanken und wollte sie klugerweise bändigen. Tante Fonteyn hatte das Zwischenspiel bemerkt. »Du. Elizabeth Antoinette.« Obwohl Elizabeth ihren mittleren Namen so sehr verachtete wie ich den meinen, blieb sie dennoch ruhig und machte erneut einen vorsichtigen Knicks.
»Madam. Es ist ein Vergnügen und eine Ehre, Sie
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