Der Matarese-Bund
flachem, schlüpfrigem Felsgestein und bemühte sich um sein Gleichgewicht, indem er den Aktenkoffer in der linken und den Seesack aus Leintuch in der rechten Hand hielt.
Vorsichtig balancierend, ging er auf dem sandigen, mit Schlingpflanzen bedeckten Boden landeinwärts, bis er aufrecht stehen konnte. Dann rannte er in das verwachsene Buschwerk, das ihn vor Polizeistreifen verbarg, die sich vielleicht oben auf den Klippen aufhielten. Der Kapitän hatte ihn gewarnt, die Polizei wäre hier unberechenbar; manche Beamte waren käuflich, manche waren es nicht.
Er kniete nieder, holte ein kleines Messer aus der Tasche und schnitt die Schnur von seinem Handgelenk ab, so daß der Aktenkoffer wieder frei war. Dann öffnete er den Seesack, entnahm ihm eine trockene Cordhose, ein Paar knöchelhohe Stiefel, einen dunklen Pullover, eine Mütze und eine grobgestrickte Wolljacke, die er alle in Paris gekauft und deren Etiketts er herausgetrennt hatte. Sie sahen hinreichend grob aus, um als die Kleidung eines Ortsansässigen gelten zu können.
Er zog sich um, rollte die nassen Kleider zusammen, stopfte sie mit dem Aktenkoffer in den Seesack und begann dann den langen Aufstieg zur Straße. Er war bisher zweimal in Korsika gewesen – einmal in Porto Vecchio –, und beide Besuche hatten mit einem unangenehmen, dauernd schwitzenden Fischerbootsbesitzer in Bastia zu tun gehabt, den das State Department als »Beobachter« der sowjetischen Flottenoperationen im Ligurischen Meer bezahlte. Der kurze Besuch im Süden, in Porto Vecchio, hatte mit einer Untersuchung in Verbindung gestanden, ob es möglich war, insgeheim Hotelprojekte im Tyrrhenischen Meer zu finanzieren; was daraus geworden war, hatte er nie erfahren. Er hatte sich damals in Porto Vecchio einen Wagen gemietet und war damit in die Berge gefahren. Er hatte die Ruinen der Villa Matarese in der brütenden Nachmittagssonne gesehen und in einer Taverna am Straßenrand ein Glas Bier getrunken. Aber der Ausflug war schnell in seiner Erinnerung verblaßt. Damals hätte er sich nie träumen lassen, daß er je zurückkehren würde. Die Legende der Matarese sagte ihm damals ebensowenig wie die Ruinen der Villa.
Er erreichte die Straße und zog sich die Mütze in die Stirn, um damit die Schramme zu verdecken, die er sich an einem eisernen Pfosten in einem Treppenhaus zugezogen hatte.
Taleniekov. Hatte er Korsika erreicht? War er irgendwo in den Hügeln von Porto Vecchio? Er würde nicht lange brauchen, um das in Erfahrung zu bringen. Ein Fremder, der Fragen nach einer Legende stellte, war leicht ausfindig zu machen. Andererseits würde der Russe vorsichtig sein; wenn jemand auf die Idee gekommen war, sich zum Ursprung der Legende durchzufragen, konnte dieser durchaus dieselben Schlüsse ziehen.
Bray sah auf die Uhr; es war fast halb zwölf. Er holte eine Landkarte heraus und schätzte, daß er sich im Augenblick zweieinhalb Meilen südlich von Sainte-Lucie befand; der direkte Weg in die Hügel – in die Matarese-Hügel, dachte er – führte geradewegs nach Westen. Aber ehe er in das Hügelland eindrang, mußte er etwas finden. Einen Stützpunkt. Einen Ort, wo er seine Sachen verbergen und sich einigermaßen darauf verlassen konnte, sie noch vorzufinden, wenn er zurückkam. Orte, wie sie normalerweise von Reisenden aufgesucht wurden, kamen dafür nicht in Frage. Es war ihm unmöglich, den korsischen Dialekt in wenigen Stunden zu meistern; man würde ihn sofort als Fremden erkenne n, und Fremde fielen immer auf. Er würde im Wald ein Lager suchen müssen, in der Nähe des Wassers, wenn das möglich war; vorzugsweise nicht zu weit von einem Laden oder einer Gastwirtschaft entfernt, wo er Lebensmittel kaufen konnte.
Er mußte mit einigen Tagen Aufenthalt in Porto Vecchio rechnen. Alle anderen Möglichkeiten schieden aus; sobald er Taleniekov fand – wenn er ihn fand –, konnte alles mögliche geschehen. Aber für den Augenblick mußte er alle notwendigen Schritte sorgfältig bedenken, ehe er irgendeinen Plan faßte. All die Kleinigkeiten!
Es gab einen Weg – zu schmal, als daß man ihn mit einem Wagen befahren könnte, vielleicht ein Schäferpfad –, der von der Straße abbog und in eine Reihe sanft ansteigender Felder führte; dieser Weg wies nach Westen. Er nahm den Seesack in die linke Hand und marschierte los, indem er die tiefhängenden Zweige zur Seite schob, bis er sich im hohen Gras befand.
Um 12.45 Uhr war er höchstens fünf oder sechs Meilen landeinwärts gegangen,
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