Der Matarese-Bund
wenn er das nicht bereits getan hat«, sagte Bray und warf Harry die Bandspule hin. »Schaffen Sie das in die Botschaft. Nehmen Sie den Film aus der Kamera und lassen Sie die Kamera hier.«
Aber Harry ließ sich nicht abweisen; er fing die Bandspule auf, machte aber keine Anstalten, die Kamera zu öffnen. »Ich stecke da auch drin. In dem Chiffretext war ich ebenso erwähnt wie Sie. Ich will Antworten haben, falls man mir Fragen stellt; falls zwischen heute nacht und morgen früh etwas passieren sollte.«
»Wenn Washington recht hat, wird nichts passieren. Das habe ich Ihnen doch gesagt. Ich will sicher sein.«
»Was brauchen Sie denn noch? Das Zielobjekt glaubt, es hätte gerade Kontakt mit dem KGB Amsterdam hergestellt! Sie haben das eingefädelt. Sie haben es bewiesen!«
Scofield studierte seinen Kollegen ein paar Sekunden lang, wandte sich dann ab und ging wieder ans Fenster. »Wissen Sie was, Harry? All die Ausbildung, die man Ihnen verpaßt hat, all die Worte, die Sie hören, all die Erfahrungen, die Sie durchmachen – das alles ist nicht so wichtig wie die erste Regel.«
Bray nahm den Feldstecher und richtete ihn auf einen fernen Punkt über dem Horizont. »Sie müssen sich selbst dazu erziehen, so zu denken, wie der Feind denkt. Nicht so, wie Sie es gerne hätten, sondern so, wie er wirklich denkt. Das ist nicht leicht; Sie können sich natürlich etwas vormachen – das ist wirklich leicht.«
Der Jüngere war jetzt verärgert. »Um Himmels willen, was hat das denn damit zu tun? Wir haben doch unseren Beweis!«
»Haben wir den? Sie haben es ja selbst gesagt, unser Möchtegern-Abtrünniger hat mit seinen eigenen Leuten Kontakt aufgenommen. Er ist eine Brieftaube, die soeben ihre Route nach Mutter Rußland gefunden hat. Er ist in Sicherheit; sein Problem ist gelöst.«
»Ja, das glaubt er!«
»Warum ist er dann nicht glücklich?« fragte Bray Scofield und richtete den Feldstecher wieder auf den Kanal.
Mit Nebel und Regen zeigte Amsterdam sein typisches Winterwetter. Der Nachthimmel war eine undurchdringliche Decke, deren Ränder von den schimmernden Lichtern der Stadt hell gepunktet waren. Es gab keine Spaziergänger auf der Brücke, keine Boote auf dem Kanal darunter; über ihm zogen Nebelschwaden dahin – ein Hinweis darauf, daß die Nordseewinde ungehindert nach Süden zogen. Es war drei Uhr früh.
Scofield lehnte an dem eisernen Geländer des westlichen Eingangs der alten Steinbrücke. In der linken Hand hielt er ein kleines Transistorgerät – nicht für Gegensprechverkehr, nur um Signale zu empfangen. Die rechte Hand hielt er in der Tasche seines Regenmantels, und seine ausgestreckten Finger berührten den Lauf einer .22 Kaliber Automatik, nicht viel größer als eine Startpistole, nur, daß sie bei weitem nicht so laut war. Auf kurze Distanz war das eine sehr zweckmäßige Waffe. Sie schoß schnell. Ihre Zielsicherheit genügte für Abstände, die man nur in Zentimetern maß. Und außerdem war sie so leise, daß man sie selbst bei den schwachen Geräuschen der Nacht kaum zu hören vermochte.
Zweihundert Meter entfernt hielt sich Brays junger Helfer in einer Türnische an der Sarphatistraat verborgen. Das Zielobjekt würde auf dem Weg zur Brücke an ihm vorbeikommen; es gab keinen anderen Weg. Sobald er den alten Russen sah, würde Harry einen Knopf auf seinem Sender drücken: Das Signal. Damit würde die Exekution beginnen; das Opfer ging seine letzten hundert Meter – zum Mittelpunkt der Brücke, wo sein persönlicher Henker ihn begrüßen, ihm ein wasserdichtes Päckchen in die Manteltasche schieben und dann seine Aufgabe erfüllen würde.
In ein oder zwei Tagen würde jenes Päckchen seinen Weg zum KGB Amsterdam finden. Jemand würde sich ein Tonband anhören, einen Film ansehen. Und wieder war eine Lektion erteilt.
Und sie würde natürlich nicht verstanden werden, wie das bei Lektionen immer der Fall war. Darin lag die ganze Sinnlosigkeit, dachte Scofield. Die nie endende Sinnlosigkeit, die jedesmal, wenn sie sich wiederholte, die Sinne betäubte.
Welchen Unterschied macht das schon? Eine kluge Frage von einem eifrigen, wenn auch nicht sehr klugen, jungen Kollegen gestellt.
Keinen, Harry. Gar keinen. Jetzt nicht mehr.
Aber in dieser Nacht nagte der Zweifel an Brays Gewissen. Nicht an seiner Moral; die Moral hatte er schon lange dem Praktischen geopfert. Wenn es funktionierte, war es moralisch, wenn nicht, war es nicht praktisch, und deshalb unmoralisch. Was ihn in dieser Nacht
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