Der Matarese-Bund
weshalb ihn das so verblüffte. Schließlich bestand die Versammlung in der Kapelle aus dem einzigen überlebenden Sohn von Fürst Andrei Voroschin. Es war wohl die Tatsache des Gottesdienstes selbst, die ihn so erstaunte.
Wassili legte die Hand auf die Türklinke, drückte sie lautlos nieder und schob die Tür ein paar Zentimeter auf. Zwei Dinge fielen ihm sofort auf: Der süßliche Geruch von Weihrauch und die zuckenden Flammen von übergroßen Kerzen, die ihn blinzeln ließen. In den Nischen der Wände standen überall Ikonen.
Vor einem Kreuz stand der Priester in weißem, mit Gold und Silber abgesetztem Talar. Er hatte die Augen geschlossen, die Hände vor der Brust gefaltet; seine sich kaum bewegenden Lippen sangen Worte eines Liedes, das mehr als tausend Jahre alt war.
Dann sah Taleniekov Walther Veltrup, einen alten Mann mit dünner werdendem weißen Haar, dessen Strähnen über seinen hageren Nacken fielen. Er kniete auf den drei Marmorstufen des Altars zu Füßen des Priesters, die Arme ausgestreckt, die Stirn in absoluter Unterwerfung gegen den Stein gedrückt. Der Priester hob die Stimme und kündigte damit das Ende des orthodoxen Kyrie eleison an. Die Litanei der Vergebung begann; ihr folgte die Antwort des Sünders, ein Choral des Selbstlobs und der Selbsttäuschung. Wassili dachte an all die Verbrechen, welche die Matarese begangen hatten und forderten; er fühlte sich abgestoßen. Er öffnete die Tür und trat ein.
Der Priester öffnete die Augen; seine Hände fuhren erschreckt und indigniert herunter. Veltrup wirbelte auf der Altartreppe herum, sein skelettartiger Körper zitterte. Unsicher, unbeholfen, richtete er sich auf.
»Wie können Sie es wagen, hier zu stören?« rief er in deutscher Sprache. »Wer hat Ihnen erlaubt, hereinzukommen?«
»Ein Historiker aus Petrograd, Voroschin«, sagte Taleniekov auf russisch. »Eine ganz gute Antwort, nicht wahr?«
Veltrup fiel auf die Stufen zurück und klammerte sich am Stein fest. Dann suchte er Halt, hob die Hände ans Gesicht und bedeckte seine Augen, als wären sie verbrannt. Der Priester kniete nieder, packte den alten Mann an den Schultern, umarmte ihn. Dann wandte er sich an Wassili. Seine Stimme klang hart.
»Wer sind Sie? Welches Recht haben Sie?«
»Reden Sie nicht von Recht! Der Magen dreht sich mir um. Schmarotzer!«
Der Priester ließ sich davon nicht beeindrucken, er hielt immer noch Veltrup umfaßt. »Man hat mich vor Jahren gerufen und ich kam. Wie meine Vorgänger in diesem Hause verlange ich nichts und bekomme auch nichts.«
Der alte Mann ließ die Hände sinken, rang um Fassung; schließlich nickte er; der Priester ließ ihn los. »Sie sind also endlich gekommen«, sagte er. »Man hat immer gesagt, daß das eines Tages geschehen würde. Die Rache ist Gottes, aber Sie und Ihresgleichen akzeptieren das ja nicht, oder? Ihr habt den Menschen Gott weggenommen und ihnen so wenig dafür gegeben. Auf dieser Welt habe ich keinen Streit mit Ihnen. Nehmen Sie mein Leben, Bolschewik. Erfüllen Sie Ihre Befehle, aber lassen Sie diesen Priester gehen. Er ist kein Voroschin.«
»Aber Sie sind einer.«
»Das ist die Last, die ich trage.« Veltrups Stimme wurde fester. »Und unser Geheimnis. Ich habe beide gut getragen, weil Gott mir die Einsicht dazu gegeben hat.«
»Der eine redet von Rechten, der andere von Gott!« stieß Taleniekov hervor. »Heuchler! Per nostro circolo!«
Der alte Mann blinzelte, in seinen Augen war keine Reaktion zu bemerken. »Wie bitte?«
»Sie haben es schon gehört! Per nostro circolo!«
»Ich höre Sie, aber ich verstehe Sie nicht.«
»Korsika! Porto Vecchio! Guillaume de Matarese!«
Veltrup blickte zu dem Priester auf. »Fange ich an, senil zu werden, Vater? Wovon redet er?«
»Erklären Sie«, sagte der Priester, »wer sind Sie? Was wollen Sie? Was sollen diese Worte bedeuten?«
»Er weiß es!«
»Was weiß ich?« Veltrup beugte sich vor. »Wir Voroschins haben Blut auf unserer Seele, das akzeptiere ich. Aber ich kann nicht akzeptieren, was ich nicht weiß.«
»Der Hirtenjunge«, sagte Taleniekov. »Mit einer Stimme, grausamer als der Wind. Brauchen Sie noch mehr? Der Hirtenjunge!«
»Der Herr ist mein Hirte…«
»Hören Sie doch auf, Sie scheinheiliger Lügner!«
Der Priester stand auf. »Hören Sie auf, wer auch immer Sie sind. Dieser gute, anständige Mann hat sein Leben lang Sünden gutgemacht, die nie seine Sünden waren! Seit er ein Kind war, wollte er ein Mann Gottes sein, aber das hat man ihm
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